Manche nennen es Schicksal, andere würden eher von Zufall sprechen. Fakt ist: Das Leben hat Iris Brandewiede und Ingrid Hagenhenrich zusammengeführt. Sie kombinieren ihre eigenen Stärken und Erfahrungen, um die starken Eigenschaften anderer Menschen hervorzuheben.
Iris Brandewiede ist Autorin, Musikerin und arbeitet als Sonderpädagogin an einer Förderschule mit dem Schwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung. Außerdem ist sie in der Beratung und Fortbildung rund um das Thema Inklusion tätig. Dadurch hat sie schon viele Kinder und Jugendliche mit körperlichen, geistigen und seelischen Erkrankungen kennengelernt. Ingrid Hagenhenrich arbeitet seit 20 Jahren als Fotografin und fängt dabei liebevoll die Persönlichkeit der fotografierten Menschen in ihren Bildern ein. Sie ist sich sicher: “Jeder Mensch möchte gesehen und ernst genommen werden.”
Die beiden Frauen eint der Wunsch, das Starke im vermeintlich Schwachen zu zeigen. So entstand ein gemeinsames Projekt, in dem Brandewiede und Hagenhenrich Betroffene des Syndroms FASD zu Wort kommen lassen. Als Ungeborene waren die Betroffenen dem Alkoholkonsum ihrer Mütter ausgesetzt und haben dadurch körperliche, geistige und psychische Schädigungen davongetragen. Nähere Informationen zu dem Syndrom gibt es in der Reihe „Starke Geister oder: Mein FASD ganz normales Leben“, die zwischen April 2022 und Mai 2023 hier bei ALLES MÜNSTER veröffentlicht wurde.
Stärken betonen, Defizite meiden
“Die Idee, über FASD oder FAS zu berichten, stand für mich schon lange im Raum”, so die Sonderpädagogin Brandewiede. Als sie auf Hagenhenrichs Arbeit aufmerksam wurde, führte sie ein Interview mit ihr. Später schrieb sie der Fotografin eine Mail und konnte sie für das gemeinsame Projekt gewinnen. Auf einem Spaziergang im Boniburger Wald entwickelten sie ihr Konzept: Über ein Jahr lang wollten sie jeden Monat eine Geschichte veröffentlichen, in der eine von dem Syndrom FASD betroffene Person aus dem Münsterland vorgestellt wird.
Dabei war den beiden wichtig, nicht auf die möglichen Defizite zu achten, sondern die Stärken und positiven Eigenschaften hervorzuheben. Darauf bezogen nennen sie sich selbst scherzhaft “Trüffelschweine”. Schnell waren sie sich einig, stellt Hagenhenrich klar: “Ich mach’ die Bilder. Du machst die Worte.” Und Brandewiede ergänzt: “Du guckst mit den Augen an, ich mit den Ohren.”
Fotos, die Geschichten erzählen
Nun traf sich die Fotografin zunächst mit den Protagonist*innen zu Hause, bei der Arbeit oder an einem anderen für sie typischen Ort und machte Fotos von ihnen. Aus diesen Fotos sollten die Porträtierten selbst vier Bilder aussuchen, die ihnen am besten gefallen. Danach führte Brandewiede Interviews mit den Personen, in denen diese über ihr Leben mit FASD erzählen konnten und erklärten, warum sie sich für “ihre” vier Fotos entschieden haben. Im Gespräch mit der Autorin und der Fotografin wird immer wieder deutlich, dass sie ihren Protagonist*innen viele Möglichkeiten zur Entfaltung lassen. So stammt der Titel der Reihe “Starke Geister” zum Beispiel von einer der Betroffenen. “Wir haben es geschafft, den Menschen einen sicheren Raum zu geben”, meint Brandewiede. Hagenhenrich formuliert es so: “Wir haben beide die Gabe, den Menschen mit offenen Herzen zu begegnen.”
Das ist der Fotografin auch mit einem weiteren Projekt über Menschen mit Demenz und deren Angehörige gelungen, für das sie sogar den Fotowettbewerb „Desideria Preis für Fotografie 2022 – Demenz neu sehen“ gewonnen hat. Eine Ausstellung dieser Arbeit ist aktuell noch bis zum 26. Oktober in der Stadtbücherei Münster zu sehen.
Ausstellungen als Präventionsarbeit
Nachdem alle zwölf Beiträge der Reihe “Starke Geister: Mein FASD ganz normales Leben” abgeschlossen waren, meldete sich die Mutter eines ebenfalls von FASD betroffenen Mannes. Auch ihm sei die Präventionsarbeit wichtig. So kam es, dass Hagenhenrich und Brandewiede ihn nachträglich als 13. Person in ihr Projekt aufnahmen. Die beiden Frauen erzählen, dass fast alle Protagonist*innen der Reihe von sich selbst sagen: “Ich bin ok, so wie ich bin.” Jedoch sei allen wichtig, auf die schweren Folgen von Alkoholkonsum während der Schwangerschaft aufmerksam zu machen und Aufklärungsarbeit zu leisten. So hat eine Betroffene gemeinsam mit Brandewiede ein Buch veröffentlicht, in dem sie über ihr Leben mit dem Syndrom berichtet und einen klaren Appell vor allem an die Leserinnen ausspricht: Bitte trinkt keinen Alkohol in der Schwangerschaft!
Brandewiede und Hagenhenrich möchten mit ihrem gemeinsamen Projekt auch weiterhin Präventionsarbeit betreiben. Deshalb haben sie im September auf einer zweitägigen Fachtagung des FASD Deutschland e. V. die Fotos mit Ausschnitten aus den dazugehörigen Interviews ausgestellt. Außerdem ist eine weitere Ausstellung im September 2024 im regionalen Fortbildungszentrum Stift Tilbeck geplant, bei der auch die Protagonist*innen anwesend sein sollen. Brandewiede und Hagenhenrich freuen sich, wenn es noch mehr Vereine oder Organisationen gibt, die ihr Projekt ausstellen möchten. Interessierte können sich gerne bei den beiden Frauen melden. Ein weiteres gemeinsames Projekt ist bereits in Planung. Hierbei soll es um junge Erwachsene mit verschiedenen körperlichen Einschränkungen gehen.
In einer früheren Version des Textes sprachen wir von der „Erkrankung“ FASD. Da die Betroffenen aber nicht krank sind, sondern von einer bestimmten Schädigung betroffen sind, die nun zu ihrer Persönlichkeit gehört, nutzen wir jetzt den Begriff „Syndrom“. Außerdem wurde die Tätigkeit Brandewiedes in der Inklusionsarbeit ergänzt. (Anm. d. Red.)
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