Wenn Roudy Ali von ihrer Flucht aus Erbil im Norden des Irak berichtet, wird die sonst so aufgeschlossene und selbstbewusste 26-jährige Kurdin aus dem syrischen Afrin ruhig und beschränkt sich auf Fakten, zu schlimm ist die Erinnerung und zu wichtig ist ihr das, was sie in der Zeit seit 2015 erreicht hat. Und das ist außergewöhnlich.
Eigentlich wollte die junge Frau ihr in Erbil begonnenes Agraringenieurstudium in Deutschland fortsetzen. Während der Flucht gemeinsam mit ihrem damaligen Mann, zwei Schwestern und ihrem Sohn hat sie in den Flüchtlingslagern immer wieder mitgeholfen, sich um andere Flüchtlinge gekümmert und die Helfer vor Ort unterstützt. Irgendwann war Roudy Ali klar, dass hier ihre eigentliche Bestimmung liegt, Menschen zu helfen. Sie bemühte sich um einen Studienplatz im Fach Soziale Arbeit an der Katholischen Hochschule in Münster, „Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass mein Abitur in Deutschland nicht anerkannt wird, aber ich wollte unbedingt studieren!“, erinnert sie sich an ihren schwierigen Neustart. Es folgte Antrag auf Antrag und endlich konnte sie 2017 ihr Studium nach vielen Anerkennungsprüfungen beginnen. „Die Prüfungen habe ich damals im Frauenhaus absolviert, da ich mich inzwischen von meinem Mann getrennt habe“, die Ehe war eine Zwangsehe und die Zeit nach der Trennung die Hölle, wie sie berichtet, das Gefühl von Sicherheit kannte sie nicht.
Das Studium stärkte ihr Selbstbewusstsein, Angst und Unsicherheit verschwanden nach und nach, heute wohnt sie mit ihrem neunjährigen Sohn in einem Stadtteil von Münster. Die junge Frau ist engagierte Feministin, die sich beherzt für eine gleichberichtigte Gesellschaft einsetzt, „Gleichberechtigung heißt nicht, dass nur weiße Männer und Frauen gleichberechtigt sind. Es bedeutet auch, dass weiße und People of color gleichberechtigt sind. Dafür versuche ich gerade die Frauen zu sensibilisieren.“ Migration und Integration sind für Roudy Ali zentrale Themen, „Ich kenne Flucht, Rassismus, Gewalt, auch Gewalt gegen Frauen aus eigener Erfahrung, dadurch bin ich für viele andere Menschen mit Migrationserfahrung eine wichtige Ansprechpartnerin. Täglich erreichen mich 20 bis 30 Anfragen“, berichtet die junge Frau, der bei Instagram fast 10.000 Menschen folgen. „Ich wollte selber nie auf Hilfe angewiesen sein und sage den Menschen, die sich bei mir melden, dass sie selber unabhängig und selbstbewusst sein sollen. Integration ist nicht Assimilation sondern etwas Gegenseitiges. Menschen mit Migrationserfahrungen haben die Möglichkeit, Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, das ist eine Chance für die Gesellschaft!“
Als freie Mitarbeiterin beim WDR
Durch ihre Arbeit in unterschiedlichen Organisationen war Ali schnell klar, dass sie an der Spitze einer Machtstruktur sein muss, um etwas zu verändern. Sie wurde Mitglied im Integrationsrat der Stadt Münster und später in den Sozialausschuss als sachkundige Bürgerin gewählt – einstimmig, wie sie betont. „Aber nicht nur die Politik kann ein Land verändern, auch der Journalismus hat diese Möglichkeiten“, wie sie sagt. Als Chefredakteurin bei „Olive Flower“, einem Magazin, das wissenschaftliche Artikel in arabischer, kurdischer und deutscher Sprache veröffentlicht, hat sie erste journalistische Erfahrungen gesammelt, inzwischen hat sie es bis zur freien Mitarbeiterin des WDR geschafft und ist regelmäßig in der Lokalzeit Münsterland zu sehen.
Schon früh hat sich Roudy Ali beim Verein für kulturelle und gesellschaftliche Zusammenarbeit AFAQ e.V. für die Interessen von Geflüchteten eingesetzt. Dr. Rana Siblini, stellvertretende Vorsitzende des Vereins, war es auch, die sie ohne ihr Wissen für den Diana Award nominiert hat, benannt nach keiner Geringeren als der verstorbenen Princess of Wales, Lady Diana. Mit diesem Preis werden nach eigenem Bekunden junge Menschen geehrt, die die Welt verändert haben. „Young people can change the world“, daran habe die Prinzessin geglaubt, wie die Initiatoren sagen. Zur Hälfte kommen die Preisträger aus Groß Britannien und zur Hälfte aus anderen Ländern. „Im Juni habe ich dann abends eine Mail aus England bekommen, dass ich den Preis erhalten habe. Ich kann diesen Moment nicht beschreiben, ich habe nur noch geweint.“ Normalerweise wird der Preis im Londoner Buckingham Palast übergeben, von Prinz William und Prinz Harry, den Söhnen der verstorbenen Lady Diana, „Ich wollte unbedingt Prinz Harry treffen, der für die Preisträger zuständig ist, die nicht aus Groß Britannien stammen, also die internationalen Preisträger.“ Wegen der Pandemie konnte die Feier im vergangenen Jahr jedoch nur online stattfinden.
Der Diana Legacy Award
Mit der Verleihung des Diana Awards fand die Geschichte aber noch nicht ihr Ende, am 9. Dezember letzten Jahres kam dann die zweite Ehrung, die Verleihung des Diana Legacy Awards, der nur alle zwei Jahre an 20 ausgewählte Gewinnerinnen und Gewinner des Diana Awards verliehen wird, wieder war Roudy Ali unter den nur 10 internationalen Geehrten. Diesmal ging es nach London, wenn auch unter erschwerten Bedingungen. Leider konnten William und Harry auch diesmal nicht persönlich kommen, sie befanden sich zu dem Zeitpunkt im Ausland und konnten wegen der grassierenden Omikron-Variante nicht einreisen, dafür wurden sie von Dianas Bruder Earl Charles Spencer in Lady Dianas Kindheitspalast „Althorp House“ empfangen. Immerhin gab es diesmal ein Gespräch mit Prinz Harry, wenn auch nur via Zoom. „Ich habe damit gar nicht gerechnet, war völlig durcheinander und habe erstmal meine Haare sortiert“, erzählt sie lachend.
Woher sie ihre Kraft und Motivation nehme, obwohl ihr selber so schlimme Dinge passiert sind, wollte der royale Gesprächspartner wissen und dass „er sich sicher sei, dass seine Mutter sehr stolz auf sie gewesen wäre, wenn sie noch leben würde.“ Auch seine Frau Meghan habe sich intensiv mit Roudy Alis Engagement auseinandergesetzt und sei sehr beeindruckt, wie Harry betonte. „Vergiss nicht, auch auf Dich zu achten“, gab ihr der prominente Gesprächspartner mit auf den Weg und fügte hinzu: „Die Welt braucht Dich! Ich würde mich freuen, Dir den Preis eines Tages persönlich in die Hand zu drücken, welcome to my family!“
Für Roudy Ali ist mit dieser Ehrung der Weg noch lange nicht beendet, wie sie sagt, „Ich will weiterhin andere Menschen motivieren sich zu engagieren, jeder in seinem Bereich – Und ich will für die Rechte von Menschen kämpfen, die ihre Rechte nicht selber verteidigen können bis sie es eines Tages selber tun können, wie ich es tat.“
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