Warst du schon mal im Jura? Nein? Ich auch nicht, bis dieser spontane Campingtrip uns genau hierher geführt hat. Schön hier, wirklich. Gestern Abend schien der Vollmond auf den ruhigen See zwischen den Bergen. Morgens schaut die Sonne durch plustrige Wolken und lässt ihr Licht über Laub- und Nadelbäume, hohe Kalksteinwände und die grüne Seeoberfläche fließen.
Auch der Liebste war noch nie hier. Er hat an einer winzigen Tankstelle einen kostenfreien Touristenführer ergattert, „#Jura – Das Magazin!“ Das Druckerzeugnis beleuchtet in zehn Kapiteln mit viel Liebe die Gegend in ihren Besonderheiten. Die zweihundert Millionen Jahre alte Geschichte des Bergmassivs wird ebenso gewürdigt wie öffentliche Spektakel und der Weinbau. Die detaillierte Karte mit dem Quiz „Wie gut kennen Sie das Jura?“ holt den Liebsten genau da ab, wo er früh am Morgen in seinem Campingstuhl sitzt: Mit perfektem Blick auf die marinen Kalkfelsen mit ihren waagerechten Reliefs aus Mergel und Sandstein, die einem Erdzeitalter den Namen gaben.
Ein Seebad in der Frische des anbrechenden Tages ist perfekt geeignet, in mir die passende erhabene Stimmung hervor zu rufen. Vom kalten Seewasser leicht angefröstelt, wärme ich mich an der heißen Teetasse und folge der spontanen Lesung des Liebsten.
Als Erstes bietet das Journal uns eine wahrhaft reizvolle Ausstellung an. Die Schau namens „FELL, FEDERN, KÖTTELCHEN“! werde uns in die Lage versetzen, fossile Spuren zu dechiffrieren, heißt es. Originale Köttelchen der Jura-Gebirgsfauna würden uns zur Analyse dargeboten. Da mögen wir kaum nein sagen!
Alternativ könnten wir „ein Wochenende des Märchenkaters“ verbringen. Das klingt zutiefst nostalgisch und irgendwie auch romantisch… Die Illustration zeigt zwei menschliche Füße in robustem Schuhwerk auf einem kupfernen Hinweisschild mit Katze (also wahrscheinlich dem Kater). Unsere Wanderschuhe haben wir auch dabei!
Kater oder Köttelchen? Schwere Entscheidung. Als ob ich mit dem Umwälzen kontroverser Emotionen und Gedanken nicht bereits genug ausgelastet wäre, versorgt mich der Liebste mit der Information, die HAUPTSTADT DER BRILLE liege unweit unseres Aufenthaltsortes. Hmmm. Inzwischen sind wir beide Brillenträger… Also quasi Zielpersonen. Viele Fragen ranken sich um dieses Alltagsutensil. Könnten wir hier ein für alle Male Antworten finden? Gar eine gemeinsame Leidenschaft entdecken? Dafür sind Paar-Urlaube schließlich erfunden worden. Oder?
Vollkommen erschöpft von so viel Input koche ich mir erst mal einen Kaffee und lausche auf das metallische Klackern vom Bouleplatz. Auf der ganzen Welt existiert kein friedvolleres Spiel als dieses. Es erfordert Konzentration und Körperbeherrschung, ohne dass die Aktiven eine übertrieben sportliche Konstitution mitbringen müssten. Auf dem Boulefeld treffen sich Groß und Klein, Jung und Alt, Dick und Dünn. Dabei sind die kleineren, älteren, dickeren und männlichen Spieler in der Überzahl, sie dominieren aber kein bisschen. Alle Anwesenden eint eine gewisse fröhliche Gelassenheit, Freude am Tun und, wenn sie am Wurf sind, eine bewundernswerte Fokussierung und Präzision. Respekt und Fairness sind auf dem Platz selbstverständlich: Jeder perfekte Wurf wird mit feinem Kugel-Klackern gewürdigt.
Nachts ereilt uns ein krasser Wetterumschwung hier, wo wir bislang nur Schäfchenwolken und blauen Himmel kannten. Die Himmelspforten öffnen sich spontan zum Abwurf von Wassersäulen, um die Hightech-Planen der modernen Camper zu testen. Auch an Blitz und Donner wird nicht gespart, was die kleine Community mit bizarren visuellen Erlebnissen unterhält. Ein ungewohnter Anstieg des Adrenalinspiegels begleitet die abenteuerliche Nacht.
Morgens fasst der Liebste für mich zusammen: Bei uns „arbeiten alle Systeme“, einzig ein Bagatellwasserstand im Flur sei zu verzeichnen. Das Wichtigste: Die Kochstätte ist unversehrt. Mein Held setzt Kaffeewasser auf. Das morgendliche Bad im See lasse ich mir durch Wasser von oben selbstverständlich nicht vermiesen. Sogleich arbeiten auch bei mir dank Vater Kneipp alle Systeme.
Unser junger Nachbar hat über Nacht seine niederländische Zurückhaltung abgelegt. Er vollführt eine halsbrecherische Yogaposition im gemeinsamen Vorgarten vor dem Panorama. Sie geht mit ausdauernden Zuckungen einher. Der Liebste beschreibt es als fein pulsierende Schüttelatmung mit dem Allerwertesten. Das ist ganz ohne Fachjargon sehr treffend beschrieben. Ich tippe auf eine Aktivierung des Wurzelchakras.
Im Jura gibt es viel zu erleben, sagt der Reiseführer. Vom Angeln und Bötchenfahren bis zum Wandern zu verwunschenen Wasserfällen ist für alle etwas dabei.
Der Liebste und ich aber haben hier genug Aufregung.
Würziger Comté und verrückter gelber Wein reichen uns als kulturelle Highlights.
Nur das mit den Köttelchen und dem Kater – da denken wir nochmal drüber nach!
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