Die erste der drei großen Schauspielproduktionen dieser Spielzeit wurde vergangenen Samstag uraufgeführt. Stefan Otteni inszenierte den Versuch, Ausschnitte aus Schillers Monumentalwerk „Wallenstein“ mit einer Collage aus überwiegend modernen Liedern und Texten zu verbinden. Unser Rezensent ist der Meinung, dass das Potenzial dieser mutigen Idee verschenkt wurde.
Es wird auf einen Vorhang verzichtet. Bereits vor dem Vorstellungsbeginn agieren die Schauspieler. Dabei erfüllt dies keinen Selbstzweck wie in einem kommerziellen Jukebox-Musical, bei dem das Publikum mit möglichst vielen Reizen bei Laune gehalten werden soll. Der offene Anfang und die Nähe zwischen Zuschauerraum und Vorbühne sollen Ensemble und Besucher näher zusammenbringen. Durch diese immersive Wahrnehmung soll die Realität in die darstellende Welt des Theaters einsickern und sich mit ihr vermischen, damit im Laufe des Abends die Bühne ein verdichtetes Abbild von Realität und Utopie wird.
Zu Beginn agieren die Schauspieler wie auf einer Reliefbühne. Ein kabarettistischer Ansatz wird gewagt. Selbst das dazu obligate Klavier am Bühnenrand ist vorhanden. Aber es bleibt rätselhaft, warum die Schauspieler weder jetzt noch später ihren realen Vorbildern in Habitus oder Aussehen auch nur ansatzweise ähneln. So weicht beispielsweise die unverkennbar unkonventionelle Frisur Anton Hofreiters einer Glatze, Jürgen Habermas artikuliert deutlich und klar, und die Verkörperung von Sahra Wagenknecht ähnelt eher der scheidenden Linken-Fraktionsvorsitzenden Amira Mohamed Ali.
Das Bühnenbild zeigt im weiteren Verlauf, über welche phantastischen Möglichkeiten ein städtisches Theater verfügt. Nachdem die rückwärtigen Stoffbahnen entfernt sind, ist die Spielfläche auf Raum- und Vorbühne strikt in drei Bereiche unterteilt. Die Text- und Musikschnipsel werden auf der Hauptbühne montiert. Im Vordergrund wird die Utopie des Friedens verhandelt. Im Hintergrund schauen wir kriegerischen Aktionen zu, Gewalt und Schrecken werden symbolisch durch einen immer weiter wachsenden Berg aus Leichentüchern und Lumpen dargestellt, wobei wir inhaltlich den Gedankenspielen von Militärs folgen.
Schließlich wird im Untergrund Schillers namensgebende Trilogie aufgeführt. Der Aufzug leistet regelmäßig ganze Arbeit. Im Keller wird scheinbar der komplette Schillersche Wallenstein gespielt, der von Zeit zu Zeit oben auftaucht, sichtbar wird und das Geschehen auf der Hauptbühne unterbricht, um dann wieder im Untergrund zu verschwinden.
Die klassische Aufführung spielt ausschließlich in einem Raum, der an eine Mischung aus luxuriösem Salon und Schlafwagen erinnert. Dies widerspricht den sonst oft wechselnden Kulissen, die die traditionelle Inszenierung aufgrund der zahlreichen Handlungsorte erfordert.
Vor der feinen, holzvertäfelten Wand sind neben den chaotisch angeordneten Stühlen lediglich Gegenstände angeordnet, die in einem militärischen Feldlager zu erwarten wären. Inspirierend ist der fast mannshohe Globus, der von zwei Stühlen fest wie in einem Schraubstock eingespannt ist.
Zweifelhaft ist, ob Schillers Wallenstein-Trilogie überhaupt geeignet ist, an diesem Abend als Grundlage für einen Friedensappell zu dienen. Die Theatermacher betonten im Vorfeld der Premiere, dass der erste Teil des klassischen Dramas auf die Welt der einfachen Leute Bezug nimmt, was zu Zeiten ausgangs des Ancien Régime revolutionär war. Im weiteren Verlauf behandelt die konventionelle Wallenstein-Trilogie hauptsächlich die komplizierte Verschwörung von Großkopferten: Sie beschreibt, wie sich Fürst und Feldherr Wallenstein maßlos überschätzt, mit unlauteren Mitteln erfolglos seinen oberbefehlshabenden Kaiser herausfordert und so in Ungnade fällt. Es wirkt inkonsequent, in einer Vielzahl einzelner Szenen des Niedergangs des Adeligen zu zeigen, während die Lied- und Textmontage den ganzen Abend über behauptet: Ginge es nach den einfachen Menschen, so sei der dauerhafte Friede zum Greifen nah.
Die Auswahl der Texte und Musikstücke für den zeitgenössischen Teil erscheint willkürlich und wiederholend.
Gregor Samsa verwandelt sich. Aber anders als bei Kafka wird in der Aufführung aus einem Pazifisten ein als Käfer verkleideter Kriegstreiber. Vorher diente er den Politprominenzdarstellern als Tischersatz, auf dem sie wie kleine Kinder Waffen-Quartett spielen konnten. Der hiermit verbundene Erkenntnisgewinn ist überschaubar.
Mehrfach sehen wir in verschiedenen Variationen den Streit zwischen Eltern, weil entweder die Mutter oder der Vater der Verpflichtung des Sohnes beim Militär nicht energisch genug entgegentritt.
Einige ausgewählte Inhalte passen nicht ins Gesamtwerk. Besonders zwei aufeinanderfolgende Musikstücke zur Eröffnung des zweiten Teils wirken deplatziert. Teile des Publikums nehmen „Ein bisschen Frieden“ als Parodie wahr, insbesondere da weite Passagen in Niederländisch vorgetragen werden. Allerdings handelt es sich nicht um intelligente Satire, sondern lediglich um eine Nachahmung: Schon am Abend ihres Eurovision-Erfolgs sang die Interpretin den Titel live auch auf Englisch, Französisch und Holländisch.
Udo Jürgens widmete seiner Tochter ein Lied, in dem er ihr ein rein glückliches Leben wünschte. Auch wenn das kleine private Glück im Laufe des Abends mit den Absurditäten des kriegerischen Weltgeschehens kontrastiert wird, so ist auch dieser Vergleich unpassend.
In der Collage gibt es immer wieder Momente, in denen die unsichtbare Grenze zwischen Bühne und Publikum durchbrochen wird. Zum Beispiel streckt die Sängerin auf der Vorbühne wie ein Rockstar das Mikrofon den Zuschauern entgegen. In solchen Augenblicken besteht die Möglichkeit, das Publikum aktiv in das Geschehen einzubeziehen und die Schauspieler zur Improvisation herauszufordern. Es ist bedauerlich, dass diese Chancen oft ungenutzt verstreichen, anstatt zu packenden Momenten in diesem experimentierfreudigen Umfeld zu führen. Ein aktiveres Wechselspiel zwischen Ensemble und Zuschauern oder zeitlich eingehegte Diskussionen können dazu beitragen, die Themen und Botschaften der Produktion mit der Relevanz aufladen, die sie vorgibt, zu besitzen.
Das Ende markiert wieder einen Anfang. Gekonnt tragen die Ensemblemitglieder die Fürbitten für eine friedliche Utopie in ferner Zukunft vor. Dazu verkündet das über der Bühne schwebende Schriftband in Abwandlung von Schillers Eröffnungssatz: „Spät kommt er, der Frieden, aber er kommt.“
Applausometer: Wohlwollend, aber nicht zu überschwänglich. Trotz Zusammenlegung der Premiere mit der Zweitaufführung war das Große Haus bei weitem nicht ausverkauft. Nach der Pause blieben weitere Plätze leer.
Die nächsten Aufführungen sind geplant für den 20.9., 26.9., 15.10., 20.10., 2.11. und 15.12.23. Weitere Infos, z.B. zur Besetzung und Links zu den Tickets findet ihr unter www.theater-muenster.com
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