Pünktlich um 20 Uhr läuten in der Halle Münsterland die Glocken. Aber es sind nicht etwa die Hell‘s Bells, die AC/DC ankündigen, sondern das deutlich milder gestimmte Geläut des Kölner Doms. Kirchenglocken sind in Münster natürlich nichts neues, schließlich haben wir neben unserem eigenen Dom eine stattliche Anzahl weiterer Murmelschuppen, die Bühnendeko jedoch sucht schon eher ihresgleichen. Die große Showtreppe führt in einen Ballsaal in New Orleans, ein riesiger Deckenventilator rührt träge die Hallenluft um, auf der Leinwand im Hintergrund laufen während des Abends die passenden Bilder zu den Songs. Der Raum um die Treppe herum füllt sich langsam mit neun ausgesprochen gut aufeinander eingespielten Musikern.
Seit Wolfgang Niedecken im Jahr 2014 seine beiden alten Mitstreiter Jürgen Zöller und Helmut Krumminga von der Fahne gegangen sind, hat sich der Altersdurchschnitt der Band deutlich verjüngt. Auf den Kopf der Band scheint sich das durchaus positiv auszuwirken, wie allein schon die Länge des Programms deutlich macht – an einem solchen Marathon-Konzert würden sich selbst viele Jüngere gar nicht erst versuchen. Einziges augenzwinkerndes Tribut an mehr als 6 ½ Jahrzehnte sind die durchgehende Bestuhlung im Saal und vier im Sitzen gespielte Stücke in der Mitte des Konzerts – man werde ja „auch net jünger“. Aber spätestens nach dem zweiten Stück hält es ohnehin niemanden im Innenraum mehr auf den Stühlen.
Zur Ergänzung der klassischen Rockbesetzung aus zwei Gitarren, Bass, Tasten und Schlagzeug gibt es aber noch hochkarätige Verstärkung: der aus der Sendung „Sing meinen Song – das Tauschkonzert“ bekannte Bläsersatz, bestehend aus Saxophon, Trompete und Posaune, hat sich überzeugen lassen, Niedecken auf Tour zu begleiten. Außerdem gehört Multiinstrumentalistin Anne de Wolff seit 2014 fest zur Band und bringt neben ihrer Stimme noch Geige, Cello, Posaune und diverse Percussions mit.
Thematisch dreht sich bei BAP vieles um New Orleans, wo Niedecken sein letztes Soloalbum aufgenommen hat. Auch die Familie kommt nicht zu kurz, immer wieder flimmern alte Familienfotos über die Leinwand, Großeltern, Eltern, Kinder und das ehemalige Familienunternehmen, ein Lebensmittel- und Feinkostladen stehen oft im Vordergrund und werden von Niedecken mit passenden Anekdoten kommentiert. Die Lebensgeschichte seiner Mutter scheint in Chippendale Desch durch, auch wenn sie eigentlich nicht Eva, sondern Hubertine hieß und meistens „Tinny“ genannt wurde. Immer wieder muss er sich in seinen Erzählungen bremsen, damit die Show nicht bis in den frühen Morgen dauert.
Ohnehin ist das Programm schon sehr umfangreich. Neben neuerem (bzw. zum Teil wiederaufgelegtem) Material der letzten Soloplatte „Das Familienalbum – Reinrassije Strooßekööter“ werden Perlen aus allen Schaffensphasen von BAP zum Besten gegeben. Da darf der 1984er „Skandal-Song“ Deshalv spill mer he, der zur Absage der geplanten DDR-Tour geführt hat, genau so wenig fehlen wie Kristallnaach, das wohl düsterste und gleichzeitig beeindruckendste Stück des Abends. Mit einem herrlich druckvollen, dreckigen Livesound, der die Echtheit der handgemachten Musik schön zur Geltung bringt, ohne verwaschen oder unpräzise zu klingen, geht es quer durch alle musikalischen Stilrichtungen. Sonnengereifter Reggae bei Aff un zo und Stell dir vüür, düstere Klänge, die an Psychedelic Rock erinnern, bei Bahnhofskino, entspannter Akustik-Sound mit Cello bei den akustischen Stücken in der Mitte des Sets, bevor zum Ende von Jupp das Schlagzeug in eine bedrückende Kriegskulisse entstehen lässt.
Immer wieder wird Niedecken politisch, appelliert an das Gute im Menschen, ruft zur Unterstützung für sein Projekt „Rebound“ auf und kritisiert die aktuellen Rechtsruck in Gesellschaft und Politik. Für seine Töchter schrieb er Wie schön dat wöhr, als sie über die Schrecken des Golfkrieges nachdachten und feststellten: „Das muss denen mal einer sagen, dass die das nicht sollen! – Mach du das doch, du kennst doch so Viele“. In Vision von Europa beschreibt er die beschwerliche Flucht zweier afrikanischer Brüder und wünscht sich eine Rückkehr von Würde, Anstand und Respekt, bevor er mit bereits erwähntem Kristallnaach und Arsch huh, Zäng ussenander, der kölschen Hymne gegen rechte Gewalt, das reguläre Set abschließt.
Aber BAP wären nicht BAP, wenn das Konzert nach gut über zweieinhalb Stunden schon zu Ende wäre. Auch der Zugabenteil ist umfangreich und musikalisch bunt gemischt, die Liebesballade Du kanns zaubre ist genauso unentbehrlich wie der größte Bandklassiker Verdammp lang her, in dem Niedecken das zuletzt schwierige Verhältnis zu seinem Vater Revue passieren lässt. Das recht neue, einem sehr jungen Publikum zugedachte Jebootsdaachspogo ist astreiner „Cajun-Punk“ mit Waschbrettbegleitung. Als nach drei Stunden und zwanzig Minuten das Licht im Saal angeht, machen sowohl die Band als auch die Zuschauer einen rundum zufriedenen Eindruck.
Mehr Fotos vom Konzert findet ihr in unserer Fotostrecke.
Wer das Konzert verpasst hat, hat heute Abend die Möglichkeit, den Tourabschluss in Köln im Livestream auf der Website der Band zu verfolgen.
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