Am gestrigen Sonntag tagte im Paohlbürgerhof in Gremmendorf wieder das Tennengericht, eine der bekanntesten Karnevalssitzungen Münsters. Bereits seit 1970 werden in dem urigen Häuschen prominente Angeklagte dem Richter vorgeführt, um für ihre Taten Rede und Antwort zu stehen.
Doch bevor es „ernst“ wurde, sorgte die SuB-Band für karnevalistische Einstimmung. Bei „Schenk mir heut` Nacht Dein ganzes Herz“ fühlte sich der ein oder andere dazu berufen, das Schinken-Schnittchen beiseite zu legen und die eigenen Gesangskünste zum Besten zu geben. Bei den knapp 200 Gästen herrschte schon am Mittag ausgelassene Stimmung. Nach der Begrüßung durch Dr. Rüdiger Holtmann, seines Zeichens Präsident der KG Paohlbürger, wurde das Publikum zu einer La Ola animiert, die dann in den Hit „Die kleine Kneipe“ von Peter Alexander überging.
Plötzlich erklang laut und ermahnend eine Glocke, der Saal verstummte und alle Karnevalskappen richteten sich gen Eingangstüre: Durch die vorausschreitende Band wurde das Hohe Gericht zur Bühne geleitet – ein wahrlich imposanter Einmarsch! Hinterher trotteten die fünf Angeklagten, allesamt in Kiepenkerltracht. Die Rolle des Richters übernahm Bernd Tepe, Ehrenpräsident des Vechtaer Carneval Clubs. An seiner Seite nahmen Präsident Mortimer Berendt als Ober-Staatsanwalt und Gograf Berthold Knipper als Verteidiger Platz.
Wissen schützt vor Strafe nicht
Der erste Angeklagte der gestrigen Gerichtsverhandlung war niemand geringeres als Prof. Dr. Johannes Wessels, Rektor der Universität Münster, dessen „hochgeistigen Werte“ Richter Tepe anerkennend betonte, bevor er ihm die Anklagepunkte verlas. Da wäre zum einen der Vorwurf, Wessels würde sich als Wissenschaftler jeglichem karnevalistischen Frohsinn entziehen. Zu seiner Verteidigung zückte der Beschuldigte ein altes Foto, welches ihn in Heino-Verkleidung zeigt. Darüber hinaus dürfe man nicht außer Acht lassen, dass die Universität „ein einziger Karnevalsverein“ sei.
Dr. Heinz Helge Nieswandt, ehemaliger Präsident des Bürgerausschusses Münsterscher Karneval (BMK) und Kustos im Archäologiemuseum, trat als Wahlverteidiger auf. Richter Tepe erleichterte ihm diese Aufgabe, indem er auch mal gerne von den Anklagepunkten abschweifte und stattdessen wertvolle Erziehungstipps gab: „Haltet die Jungs vom Blaulicht und die Mädels vom Rotlicht fern.“ Ein Kalauer folgte dem nächsten und wurde von dem feucht-fröhlichen Publikum gebührend mit Gelächter belohnt.
Ein Auge auf das Preußen-Spiel
Bei dem zweiten Angeklagten handelte sich um den Kölner Ex-OB Jürgen Roters. Dem gebürtigen Coesfelder wurde vorgeworfen, all seine Kraft in die Stärkung des rheinischen Frohsinns zu stecken. „Ein Alaaf ist kein Helau!“ erinnert ihn Richter Tepe. Roters zeigte sich reumütig und lobte, dass Münster (nach Köln, wohlgemerkt) die zweitälteste Karnevalsgesellschaft in Deutschland habe. Er beteuerte, er habe in Köln Werbung für Münster machen wollen und stimmte gleich das Lied an, mit dem besagter Versuch unternommen wurde: „Westfalenland ist außer Rand und Band“. Während im Paohlbürgerhof sofort alle mitsangen, sei man in Köln bedauerlicherweise eingeschlafen, so Roters.
Auch in Hinblick auf die Fußballmannschaften stimmte Roters friedliche Töne an: “Der 1. FC Köln soll sich anstrengen, in die 2. Liga zu kommen und der Preußen Münster genauso, damit sie miteinander spielen können.“ Passender hätte das Timing nicht sein können, als einer der Narren lauthals das 1:0 im gerade erst angepfiffenen Preußenspiel verkündet. Zum Ende seines Plädoyers offerierte Roters der Stadt Münster, ihren OB Markus Lewe doch gegen Kardinal Woelki zu tauschen.
Das Verbrechen der Italienischen Stimmgewalt
Für Gänsehaut sorgte der 3. Angeklagte vor dem Tennengericht: Der Opernsänger Sebastiano Lo Medico sah sich mit der Behauptung konfrontiert, er würde mit seiner gefühlvollen Stimme Herzensbrecherei begehen. Mit italienischem Akzent gestand der Tenor seine Schuld in diesem Punkt und wurde von Knipper um den unmittelbaren Beweis in Form von „O sole mio“ gebeten.
Gegenstand des nächsten Anklagepunktes war ebenfalls italienischer Natur: eine Pizza. Der Sänger habe diese in seinem Steinofen anbrennen lassen – eine Sünde! Die Erklärung, die dahintersteckt, besänftigte jedoch alle Gemüter. Beim Nachsehen habe Medico bemerkt, dass die Pizza schon braun war. Dann habe er sie absichtlich noch etwas im Ofen gelassen, da es in Deutschland „besser ist, schwarz zu sein als braun.“
Standing ovations gab es dann bei der musikalischen Zugabe. Mit der berühmten Arie „Nessun Dorma“ von Puccini verwandelte Lo Medico den westfälischen Paohlbürgerhof endgültig in ein südländisches Amphitheater und jedes Bier in einen vollmundigen Chianti.
Kulinarischer Bestechungsversuch
Doch schnell holte einen die Realität der „bierernsten“ Gerichtsverhandlung wieder ein. Der Aachener Georg Cosler, Kommandant der „Oecher Penn“ musste nun vor die Herren in schwarzen Roben treten. Vorgeworfen wurde ihm unter anderem die Ausbildung von Trommlern, ohne eine amtliche Genehmigung zu haben oder gar Noten zu kennen! Während er sich in diesem Punkt noch mit verbalen Argumenten verteidigte („dafür braucht man keine Noten, sondern Taktgefühl!“), wechselte er kurzerhand seine Strategie und versuchte es mit kulinarischer Bestechung. Vielleicht setzte er aber auch auf die Irritation, die das „Menü“ auslöste: Blutwurst und Wacholderschnaps, eine Oecher Spezialität zum Fahneneid.
Der Paohlbürgerhof wird zum Mega-Park
Hochprozentiges brauchte man nicht, um bei dem letzten Angeklagten in den Party-Modus zu schalten. Der Schlagersänger Sebastian „Buddy“ Erl kam am Sonntag extra für die Karnevalssitzung aus Mallorca hergeflogen und räumte damit schon den ersten Anklagepunkt – er fahre immer der Sonne hinterher – ein. Mit der passenden Hymne „Ab in den Süden“ heizte er dem närrischen Publikum beim Tennengericht ordentlich ein und sorgte voller Energie für einen musikalischen Exkurs zum Ballermann. Kein Narr saß mehr an seinem Platz.
Nicht aus Malle, sondern aus Sprakel eingeflogen, kam schließlich Prinz Jens I. in den Paohlbürgerhof einmarschiert und begrüßte sein hochmotiviertes Party-Volk. Zu der Melodie von „Sweet Caroline“ schmetterte er seinen eigenen Text mit dem Refrain „Münster Helau“ und viele weitere Münster-Hymnen.
Und falls sich bei all dem Trara noch jemand für die Urteilsverkündung interessiert: Alle Angeklagten wurden freigesprochen. Wer hätte es gedacht?
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