An dieser Stelle treten in der zweiten Staffel unserer Empowerment-Serie monatlich junge Erwachsene auf die Bühne, die mit Mut und Konsequenz Barrieren überwinden und ihre Herzensangelegenheiten verfolgen. Die Fotografin Ingrid Hagenhenrich hat einen unvergleichlich liebevollen Blick auf die Menschen vor ihrer Kamera. Sie nimmt sich Zeit, jede Persönlichkeit auf eigene Art zu portraitieren. Iris Brandewiede gibt ihren Worten Raum. In der elften Folge treffen wir den neunundzwanzigjährigen Welat Ekingen aus Münster.
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Mein Name ist Welat Ekingen und ich liebe es zu lesen, aber nicht zur Unterhaltungszwecken, sondern Bücher, wo man sich weiter entwickelt. Dieses Buch heißt: „Denke nach und werde reich“. Ich finde Geld im Leben wichtig, da Geld auch ein Stück Freiheit ist und Geld dir einfach Sachen ermöglicht, die du ohne Geld leider nicht tun könntest. Dazu gehört auch, dass man reisen kann und viel von der Welt sieht.
Aber nicht nur fürs Reisen ist Geld wichtig, es bietet dir auch Sicherheit, in der Form, dass man sich keine Gedanken machen muss: Wie bezahle ich meine Rechnungen, Miete oder qualitativ gute Lebensmittel? Somit hast du mehr Zeit, um mit deinen Liebsten zu sein. Aber du kannst dir auch die Dinge kaufen, die du dir schon immer gewünscht hast. Der wichtigste Punkt ist aber, dass man sich mit dem Geld, was man sich erarbeitet hat, die besten Ärzte leisten kann. Natürlich hoffen wir das wir niemals krank werden. Es geht nicht darum, viel Geld auf dem Konto zu haben, sondern was man mit Geld machen kann.
Ich möchte gerne auswandern, am liebsten möchte ich einen zweiten Wohnort im Ausland haben. Das Land Deutschland lieb ich ja. Ich lebe hier in Sicherheit, ich bin hier gut versorgt. Aber wenn man was erreichen will, wirst du nicht unterstützt. Es ist alles zu bürokratisch mit dem ganzen Papierkram, die Steuern sind hoch. Die Politiker verdienen so viel Geld, und Menschen, die vierzig Jahre gearbeitet haben, müssen Pfandflaschen sammeln. Und das in einem Land, wo man sagt, jeder muss gleich behandelt werden – da läuft etwas falsch. Es fließen viele Gelder in blutige Kriege, das finde ich nicht gut.
Die meisten psychischen Probleme kommen daher, dass man nicht genug Geld oder nicht genug Liebe hat, und auch das Wetter ist entscheidend für die Laune des Menschen. Ich glaube, die Mentalität in der Türkei würde mir gefallen. Dieses Jahr war ich in Dubai, das fand ich ganz schön, auch da könnte ich mir vorstellen zu leben und Amerika würde ich gern mal bereisen. Eigentlich will ich die ganze Welt sehen.
Ich habe die Glasknochenkrankheit, Osteogenesis Imperfecta. Den Fachmann aus meinem Sanitätshaus kenne ich schon, seit ich mit drei Jahren meinen ersten Rollstuhl bekommen habe. Ich bin also direkt vom Kinderwagen in den Rollstuhl umgestiegen. Bis ich sechzehn Jahre alt war, hatte ich einen Schieberollstuhl. Seitdem fahre ich einen Elektrorollstuhl. Der Rollstuhl wird mir angepasst, sodass ich zum Beispiel über einen langen Zeitraum gemütlich sitzen kann. Wenn mal etwas kaputt ist, wird so schnell wie möglich geholfen und vieles wird nach meinen Wünschen gestaltet. An der Akkulaufzeit meines E-Rollstuhls kann man aber noch arbeiten – am besten so, dass er nie mehr leer geht! Leider ist das technisch noch nicht möglich.
Deshalb ist es so: Bevor ich mich auf eine Reise begebe, muss ich schauen, ob mein Rollstuhl das schaffen kann, und ob da, wo ich hinfahre Steckdosen sind. Da der Akku etwa acht Stunden zum Laden braucht, überlege ich mir dreimal, ob ich die Reise antrete.
Aufgrund meiner Größe ist mir die Sitzverstellung am wichtigsten. Ich kann den Sitz auf bis zu einen Meter fünfzig hochfahren. Beim Einkaufen komme ich dann auch an Produkte, die höher einsortiert sind. Und beim Daten bin ich zumindest bei südländischen Frauen auf Augenhöhe, weil sie meist etwas kleiner sind, als europäische Frauen. Wahrscheinlich, weil wir in unserer Kindheit nicht gerne Fruchtzwerge gegessen haben! Aber ich punkte sowieso mehr mit meinem Charakter als mit meiner Größe.
Ich wünsche mir mehr Inklusion, mehr Miteinander. Behinderte und Nichtbehinderte Menschen müssen sich viel mehr begegnen. Das klappt einfach noch nicht. Die Gesellschaft ist überfordert, sobald jemand nicht in die Norm passt. Das betrifft die Arbeit, die Beziehungssuche und eigentlich alles. Auch in der Arbeitswelt dürften behinderte Menschen nicht in Werkstätten abgeschoben werden. Ich glaube, dass Menschen mit einer Behinderung zu wenig zugetraut wird und sie dadurch zu wenig Selbstbewusstsein entwickeln. Wenn Eltern, Pädagogen, Sozialarbeiter und Lehrer immer eine schützende Hand über sie halten, geht das für mich in die falsche Richtung.
Sie müssen die Kinder viel früher ins kalte Wasser werfen. Wenn du eine schwache Ausstrahlung hast, wirst du schnell zum Opfer – das gilt auch für Menschen ohne Behinderung. Einigen Kindern kannst du schon von klein auf ansehen, dass sie später Schwierigkeiten haben werden und im schlimmsten Fall gemobbt werden. Einfach nur, weil man seinem Kind keine Selbstbewusstsein beigebracht hat. Aber zurück zum Thema Behinderung. Je mehr du verstehst, dass du anders bist, aber nicht weniger wert, desto mehr wirst du eine starke Ausstrahlung entwickeln.
Wenn du Menschen auf der Straße begegnest, sind die nicht immer nett!
Ich selbst versetze mich immer erst in die Lage einer anderen Person und habe Verständnis für die Menschen. Wenn zum Beispiel eine Kassiererin im Supermarkt unfreundlich zu mir ist, nehme ich das nicht persönlich. Vielleicht gab es in den letzten Tagen Ärger zu Hause oder sie hat einfach einen schlechten Tag. Aber wenn es ernst wird, lasse ich mir von niemandem etwas sagen, egal wen ich vor mir habe. Das bringt natürlich Risiken mit sich, das ist mir bewusst. Trotzdem habe ich keine Angst.
Man wird anders behandelt, wenn man nicht zur Norm passt, auch wenn die Leute das nicht böse meinen. Das betrifft nicht nur Menschen mit Behinderung, sondern alle Menschen, die anders aussehen. Viele wissen nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollen.
Ich arbeite selbständig als Online-Händler. Ich wäre auch gern Erzieher geworden, aber aufgrund meines Rollstuhls haben die Kindergärten Schwierigkeiten gesehen, da ich nicht hinter den Kindern her rennen kann, was ich auch irgendwo verstehen kann. Ich liebe Kinder! Oft unternehme ich mit den Kindern eines guten Freundes Aktivitäten, wie auf den Spielplatz gehen, spazieren gehen. Wir malen oder basteln auch viel. Die freuen sich immer auf mich. Ich kann gut mit ihnen umgehen und sie lieben mich.
Meine Mutter traut mir ein eigenes Kind noch nicht zu. Nicht, weil sie glaubt das ich es nicht kann, sondern weil sie sagt, dass viel Verantwortung dazugehört, mehr als ich glauben mag. Aber sie war auch ängstlich, als ich vor acht Jahren von zu Hause ausgezogen bin. Jetzt weiß sie, wie gut ich selbständig klarkomme. Wenn Eltern ihr Kind schützen wollen, heißt es nicht immer, dass es auch das Richtige ist.
Anhand der Erfahrungen, die ich in meinem Leben gemacht habe, möchte ich diese Messages geben:
Werft als Eltern euer behindertes Kind einfach mal ins kalte Wasser und gebt der Gesellschaft die Chance, sich mit behinderten Menschen zu beschäftigen!
Gestaltet als Stadtplaner Gebäude doch gleich barrierefrei, statt später eine extra Behindertentoilette zu bauen.
Traut einfach allen behinderten Menschen mehr zu! Sprecht sie an, fragt sie, was ihr wissen wollt. Oft ist es nicht so, wie es auf den ersten Blick scheint.
Ich wünsche mir für die Zukunft eine echte Liebe. Eine Beziehung, wo beide in guter und schlechter Stimmung füreinander da sind. Ich komme rüber wie einer, der immer gut drauf ist und die Kraft hat, mit seiner Situation umzugehen. Aber auch bei mir gibt es diese Momente, wo die Gedanken kreisen und ich über alles im Leben nachdenke. Mein größter Wunsch wäre ein eigenes Kind. Wenn es die Möglichkeit gibt, werde ich ein Kind adoptieren und Vater sein.
Alle Teile dieser Reihe gibt es hier: https://www.allesmuenster.de/tag/Herzensangelegenheiten
Welat auf Instagram: @welat161 Weiterführende Infos von Incluencer:innen und Aktivist:innen „Die Neue Norm“: Podcast zu aktuellen Inklusionsthemen: https://dieneuenorm.de/podcast Raul Krauthausen (https://raul.de/): DER AKTIVIST für Barrierefreiheit und Wertschätzung von Diversität Zu den Autorinnen: Instagram-Account von @ingridhagenhenrich Instagram Account von @irisbrandewie.de Homepage von Ingrid Hagenhenrich: https://ingrid-hagenhenrich.com/
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