Eigentlich wollte das Theater Titanick im letzten Jahr seinen 30. Geburtstag ganz groß feiern. Doch daraus wurde wegen Corona nichts, nun wird das in diesen Monaten als „30+1“ mit einem „Open Air Summer“ nachgeholt. Den Auftakt dazu schlug die umtriebige Truppe aus Münster und Leipzig gestern mit der Premiere ihres neuen Stücks „Upside Down“ auf dem Gelände der ehemaligen York-Kaserne in Münster-Gremmendorf. Für Kurzentschlossene gibt es für die heutige Aufführung sogar noch Tickets!
Drei Personen, dargestellt von Christian Backhauß, Sindy Tscherrig, Kerstin Ohlendorf, verharren zu Beginn minutenlang, als würden sie wie das Publikum warten, dass ihr Stück losgeht. Dass es schon längst begonnen hat, ist auch erst so richtig zu merken, als die Musik sich allmählich ändert und die drei mal einen Schritt nach vorne und dann wieder zurück treten. Dabei spüren alle: Diese Plattform, auf der sie stehen, ist leicht in ein Ungleichgewicht zu bringen. Ihre Welt droht also mit jedem Schritt zu kippen. Und schon ist zu merken, dass die Menschen unterschiedliche Strategien verfolgen – die einen forsch und neugierig, die anderen vorsichtig oder gar ängstlich.
Ein weiterer typisch menschlicher Zug wird gleich anschließend deutlich: Der Kampf um den eigenen Raum. Kreissegmente werden zu Wänden, mit denen die einzelnen Personen sich abgrenzen, die sie wie Türen zuklappen, was mitunter gewalttätig wirkt, als wollten sie sich gegen andere wehren oder sie aussperren. Dabei gerät ihre Welt ins Wanken, denn das Objekt, auf dem das Spiel der ganzen Inszenierung von „Upside Down“ stattfindet, ist sehr beweglich. Es ist zusammengesetzt aus den grundlegenden geometrischen Formen: aus Kreisen, die das Gerüst bilden, aus Kreissegmenten, die mal Wände und mal Böden sind, und aus ihnen herausgeschnitten ein Rechteck und ein Quadrat, die bei Gelegenheit als Fenster oder Tür verwendet werden. Durch die ständige Bewegung dieser Elemente entsteht vor unseren Augen eine dreidimensionale Form: die Kugel. Das Ergebnis ist unschwer als Allegorie auf unseren Globus zu erkennen, mit den drei Darstellern als Stellvertreter für uns Menschen.
Anders als so einige der beliebten Inszenierungen von Theater Titanick in den vergangenen Jahren ist „Upside Down“ sehr zurückhaltend in der Optik, deutlich weniger bunt und schrill als zum Beispiel „Alice On The Run“ 2017 auf Münsters Hafenplatz. Auch die Projektionen, die zwischendurch auf die Wände des rotierenden Objekts geworfen werden, nehmen keinen allzu breiten Raum ein. Sie ergänzen die bis dahin ausschließlich durch Bewegungen und Musik erzählte Geschichte, bringen eine weitere Ästhetik hinzu, die fast schon an Musikvideoclips erinnert. Mehr aber auch nicht. Wie üblich bei Theater Titanick gibt es keine verständlichen Dialoge, dafür eine sehr präsente Musik, die mal basslastig und rhythmisch daherkommt, dann wieder sphärisch. Sie ist von Rafael Klitzing eigens für das Stück komponiert oder am Computer zusammengestellt, mitunter mit O-Tönen aus Politik, Sport und Weltgeschehen unterlegt, die aber fast nie genau zuzuordnen sind. Immer wieder erinnert die expressive und mitunter etwas übertriebene Gestik und Mimik der drei Darsteller an Stummfilme der 1920er Jahre – auch das nichts Ungewöhnliches beim Theater Titanick.
„Upside Down“ ist aber auch ein sehr akrobatisches Stück, bei dem die drei Personen ziemlich viel an dem meistens rotierenden Objekt herumturnen und mitunter ganz den Boden unter ihren Füßen verlieren. Allein schon dafür verdienten sie sich den herzlichen und kräftigen Applaus des Premierenpublikums. Dem war allerdings auch schon von Beginn an anzumerken, dass wir alle nach den Monaten des Lockdowns und des damit verbundenen Kulturentzugs nach solchen Live-Erlebnissen dürsten. „Es ist nur ein Anfang!“ versprach Clair Howells bei ihrem kurzen Schlussworten, bei denen sie und Uwe Köhler darauf hinwiesen, dass dieses Stück ab März 2020 unter Corona-Bedingungen entwickelt, dafür gebaut und geprobt wurde.
Unter besonderen Hygienebedingungen finden auch die aktuellen Aufführungen statt: Tickets gibt es nur online unter Angabe persönlicher Daten zur Zurückverfolgung, beim Eintritt ist ein aktuelles, negatives Testergebnis oder ein Impfnachweis vorzulegen, und die Zuschauer werden in eigens für sie gruppierte Standorte platziert. Dafür wurden die Ticketnummern mit Straßenmalkreide in bunte Kreise geschrieben. Wer nicht den ganzen Abend an diesem zugeordneten Platz stehen oder auf dem nackten Boden sitzen möchte, sollte sich einen Klappstuhl mitbringen, wie es ein großer Teil der Zuschauer gestern getan hat.
Inszeniert hat das Stück „Upside Down“ Marie Nandico, die von den Urgesteinen der Gruppe, Clair Howells und Uwe Köhler, mit Georg Lennarz als „Nächste Generation“ vom Theater Titanick vorgestellt wurde. Zusammen verheißen die vier und ihre große Gruppe eine Geburtstagsfeier, die „einen ganzen Open Air Sommer lang“ dauern soll. Nach der heutigen, zweiten Aufführung von „Upside Down“ in der York-Kaserne, für die es für Kurzentschlossene unter https://titanick.de/ sogar noch Tickets gibt, geht es am 18. August im alten Gasometer am Albersloher Weg weiter, wo das allererste Stück „Titanic“ eine Wiederaufführung erlebt, bis am 24. und 25. September das neue Stück „Trip Over“ zum ersten Mal in Münster zu sehen sein wird. Wir freuen uns schon darauf!
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