Multiple Sklerose ist – buchstäblich – auch eine Frage des eigenen Standpunktes: Die Wahrscheinlichkeit, daran zu erkranken, nimmt zu, je mehr man sich dem Nord- oder Südpol nähert – das stellte der US-amerikanische Epidemiologe Gil Beebe schon 1967 fest. Er hatte Soldaten beobachtet, die verstreut über die Welt stationiert waren. So entstand die Annahme, dass Multiple Sklerose (MS) irgendwie mit der Sonneneinstrahlung zusammenhängt. Aber wie? Der genaue Einfluss von ultraviolettem Licht auf die entzündliche Erkrankung des Nervensystems blieb jahrzehntelang ungeklärt. Neurowissenschaftler der Universität Münster haben zusammen mit Kollegen anderer Standorte mit einer neuen Studie nun mehr Klarheit geschaffen.
Beeinflusst die Sonne nur die Wahrscheinlichkeit, überhaupt an MS zu erkranken? Oder sind einzelne Menschen auch unterschiedlich schwer betroffen, je nachdem wo sie wohnen? Die Autoren der in der Fachzeitschrift PNAS veröffentlichten Arbeit bejahen beides. Und sie zeigen noch mehr: UV-Licht löst im Körper von MS-Patienten ganz ähnliche Prozesse aus wie das Medikament Interferon.
„Sonnenlicht beeinflusst den Schweregrad der MS offenbar positiv“, sagt der Leiter groß angelegten Untersuchung, Prof. Nicholas Schwab von der münsterschen Uniklinik für Neurologie. Für ihre Arbeit werteten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Daten von nahezu 2.000 MS-Patienten aus. „Die Kooperation im ‚Krankheitsbezogenen Kompetenznetz Multiple Sklerose‘ (KKNMS) lieferte uns eine hochwertige Datenbasis, mit der wir verschiedene Blickwinkel einnehmen konnten“, erläutert Klinikdirektor und KKNMS-Sprecher Prof. Heinz Wiendl. Die ausführlichen Patientendaten entstammen der NationMS-Kohorte des Netzwerks, einer nationalen Langzeitstudie mit inzwischen 1.400 Patienten. Dank dieser breiten Faktenbasis konnte das Forschungsteam bei seiner Analyse zahlreiche Einflussfaktoren berücksichtigen, darunter Wohnort, Geschlecht und Lebensweise, aber auch die genetische Vorprägung für Sonnenempfindlichkeit.
Die Ergebnisse der Studie deuten darauf hin, dass UV-Licht und MS schon auf einem relativ kleinen Gebiet wie Deutschland mit seiner Nord-Süd-Achse von knapp 1.000 km zusammenhängen. Die aktiven Entzündungsherde in Gehirn und Rückenmark und auch der Beeinträchtigungsgrad nehmen von Süd- nach Norddeutschland im Mittel zu. Im Gegenzug sinkt der saisonbereinigte Vitamin D-Spiegel – wie auch die Sonneneinstrahlung – gen Norden. Bereits seit Jahren wird angenommen, dass Vitamin D unter anderem das Immunsystem beeinflusst und entzündungshemmend wirkt. Dies hatten die Neurowissenschaftler aus Münster 2014 schon in einer kleineren Studie untersucht. Aber schon damals ahnten sie: Vitamin D kann nicht alles sein – die Sonne beeinflusst die MS noch auf weiteren Wegen. Die aktuelle Studie gibt ihnen Recht.
Um zu klären, ob Sonnenlicht Ursache für die Unterschiede ist, zogen die Forscher Daten der NASA zu Rate. In einem sehr aufwändigen Verfahren schätzten sie die Menge an UV-Licht, der die Probanden im Jahr vor der Untersuchung im Schnitt ausgesetzt waren. Die Daten stützen das Ergebnis: Nimmt die Sonneneinstrahlung zu, nehmen die MS-Beschwerden im Mittel ab.
Es gab jedoch eine Ausnahme: Wurden Patienten zuvor mit Interferon-beta behandelt, wirkte das Sonnenlicht nicht mehr. Die möglichen Erklärungen: Einerseits kann Interferon-beta selbst der Auslöser sein, indem es die Vitamin-D-Produktion verändert. Das natürliche Nord-Süd-Gefälle beim Vitamin D-Spiegel könnte derart aufgehoben werden. Oder aber das Sonnenlicht ist ursächlich: UV-Licht regt den Interferon-Signalweg an, wie die Wissenschaftler anhand von Gensequenzen feststellten. „Das ist interessant, da wir wissen, dass die MS gut auf die Behandlung mit Interferon-beta anspricht“, sagt Patrick Ostkamp, Erstautor der Studie.
Bei Patienten, die bereits mit Interferon behandelt werden, sind die Effekte des Sonnenlichts, die auch über Interferon vermittelt werden, nicht mehr festzustellen. Denn der Signalweg kann nur einmal angeregt werden – entweder von Interferon oder von UV-Licht. Beides zusammen ergibt keinen Zusatznutzen – ähnlich wie bei einem Glas Wasser: Voll ist voll, zusätzliche Flüssigkeit läuft über den Rand.
Trotz allem Nutzen: Dass übermäßige UV-Strahlung schädlich sein, gilt natürlich auch für MS-Patienten. Intensives Sonnenbaden fördert die Entstehung von Hautkrebs, vor allem bei Hellhäutigen und Rothaarigen. Diese tragen eine genetische Variante des Melanocortin-1-Rezeptors (MC1R) in sich, der für die Bildung von hautschützendem Melanin zuständig ist. Bei Menschen mit einer bestimmten MC1R-Variante war der Zusammenhang zwischen Breitengrad und MRT-Aktivität umgekehrt. „Ein mehr an Sonnenlicht ist also nicht nur für die Haut, sondern auch für die MS schädlich“, sagt Prof. Wiendl. Er empfiehlt, sich beim Sonnen an die Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation zu halten: Danach ist eine halbe Stunde Sonnenbaden pro Tag für die meisten Menschen sinnvoll – auch und gerade, wenn sie unter Multipler Sklerose leiden.
Bundesweites Netzwerk zur Multiplen Sklerose jetzt in Münster ansässig
Unter der launigen Überschrift „Noch mehr MS-Kompetenz in MS“ meldete das Universitätsklinikum Münster in diesen Tagen, dass die Geschäftsstelle des Krankheitsbezogenen Kompetenznetz Multiple Sklerose, kurz: KKNMS, ein interdisziplinäres deutschlandweites Forschungsnetzwerk, nach Münster umgezogen ist und sich im Technologiehof ICB niedergelassen hat – nur rund 1.000 Meter von den Bettentürmen der Uniklinik entfernt. Damit sind die münsterschen Experten nun auch buchstäblich „nah dran“ an einer der wichtigsten Anlaufstellen im MS-Bereich.
„Multiple Sklerose ist nach wie vor nicht heilbar. Hochrechnungen zufolge sind mindestens 200.000 Menschen in Deutschland betroffen – zwei Drittel davon sind Frauen“, umreißt Prof. Heinz Wiendl, Sprecher des siebenköpfigen KKNMS-Vorstands und Direktor der münsterschen Uniklinik für Neurologie, die Relevanz des Themas. Der Fokus der von dem Verbund unterstützten Projekte liegt daher auf der langfristigen Verbesserung der MS-Diagnose, -Therapie und Versorgungsqualität. Ein zentrales Ziel ist der schnelle Transfer von Forschungsergebnissen in die Praxis.
Beispielhaft für die Arbeit des KKNMS ist die schon seit 2009 laufende Kohortenstudie „NationMS“, an der 1.500 Patienten mit klinisch isoliertem Syndrom beziehungsweise früher Multipler Sklerose teilnehmen: Die Patienten werden über mindestens zehn Jahre medizinisch begleitet und wissenschaftlich beobachtet. Die beteiligten Forscherinnen und Forscher hoffen, über die Kohorte neue, für MS charakteristische genetische, epigenetische oder biologische Merkmale identifizieren zu können. Solche „Biomarker“ liefern wichtige Informationen darüber, wie sich eine Krankheit im Einzelfall wahrscheinlich entwickeln wird und wie Patienten auf Therapien ansprechen.
Das KKNMS gehört zu den 21 Kompetenznetzen in der Medizin, die vom Bundesforschungsministerium initiiert wurden. Alle verfolgen das Ziel, die Fachwelt zu vernetzen, um letztlich die Patientenversorgung zu verbessern. Nähere Infos zum KKNMS gibt es auf dessen Website www.kompetenznetz-multiplesklerose.de.