Wir haben alle nur noch wenig Zeit, uns die Skulptur Projekte 2017 anzusehen, denn am 1. Oktober endet die Ausstellung. Hier stellen wir ein paar der Kunstwerke mit besonderem Bezug zur Stadt Münster vor. Denn seit 1977 gab es immer schon solche Skulpturen, die praktisch überall ausgestellt werden könnten, und solche, die so eng mit dem Ort und seiner Geschichte verknüpft waren, dass sie woanders keinen Sinn ergeben hätten. Das ist auch in diesem Jahr wieder so. Auffälligerweise dreht es sich diesmal besonders häufig um die Architektur der Stadt.
Das beginnt schon im LWL-Museum für Kunst und Kultur, was wohl nur denjenigen Besuchern auffällt, die vor dem 10. Juni schon mal im Foyer des Neubaus waren. Die sonst so hallende Akustik und das helle Licht in diesem riesigen Raum ist nämlich deutlich gedämmt. Die Künstlerin Nora Schultz hat das Oberlicht mit Folien und den steinernen Boden mit einem schallschluckenden Teppich abgedeckt. Zu ihrer Installation mit dem umständlichen Titel „Pointing their fingers at an unidentified event out of frame“ gehören auch an zwei Stellen direkt auf die Wand projizierte Filmaufnahmen, die mit GoPro-Kameras und Drohnen in eben diesem Foyer entstanden sind, und die Geräusche, die bei den Drohnen-Flügen erzeugt wurden. Nora Schultz deutet also „mit ihren Fingern auf ein unbekanntes Ereignis außerhalb des Rahmens“, wie der Titel übersetzt heißt. Dabei kann das Foyer als Rahmen für das Museum betrachtet werden, aber auch das LWL-Museum für Kunst und Kultur selbst als Rahmen für die Skulptur Projekte.
Dort draußen finden wir ganz in der Nähe, an der Aegidiistraße, eine weitere Skulptur, die schon auf dem ersten Blick nach Architektur aussieht. Sie heißt schlicht „Sculpture“ und wurde von dem Künstlerinnenduo Barbara Wolff und Katharina Stöver errichtet, das sich nach einem rumänischen Schloss Peles Empire nennt. Ihr Bauwerk auf dem Parkplatz des Oberverwaltungsgerichts zeigt ein Bild von diesem inzwischen halb verfallenen Königsschloss Peleş, das 1883 als Mix verschiedener Stilepochen entstanden ist. Für die Form der Giebelfront ihrer Skulptur haben sich die beiden Künstlerinnen von den Häusern an Münsters Prinzipalmarkt inspirieren lassen, die alle mehr oder weniger im Zweiten Weltkrieg zerstört und danach wieder aufgebaut worden sind, aber nicht als exakte Rekonstruktion, sondern eher fiktiv historisch. Aus ihnen hat das Duo für ihre Skulptur einen münsterschen Durchschnittsgiebel ermittelt und als Vorlage verwendet – eine von ihren vielen Spielarten des Remixens.
Komplett neue Architektur gab es in Münsters Nachkriegszeit auch: das von einem jungen Architektenteam entworfene Stadttheater war damals einer der ersten Theaterneubauten in Deutschland – und wurde wegen seiner kühnen Ideen von einigen Zeitgenossen als „Donnerschlag der Moderne“ gefeiert. Im Innenhof, wo ein Teil des im Krieg zerstörten Romberger Hofs in den modernen Bau eingefügt wurde, hat das Künstlerteam CAMP nun eine mehrteilige Installation aufgebaut. Ashok Sukumaran und Shaina Anand sind zwei Mitglieder der mehrköpfigen Gruppe, sie haben zwischen der Ruine und der Glasfassade aus den 1950er Jahren ein Netz aus Kabeln gespannt, das auch schon mal über das Theater hinausgeht und Bezüge zu Nachbarhäusern herstellt. Besucher können über Taster an den Enden von einigen dieser Kabel selbst ins Kunstwerk eingreifen und zum Beispiel den Klang einer Glocke auslösen, die von der benachbarten Kirche St. Martini zu stammen scheint. Oder den Ablauf von zwei Filmen beeinflussen, deren Bestandteile aber festgelegt sind: es sind Wochenschau-Aufnahmen von der Einweihung von Münsters Theater 1956 und Ausschnitte der Verfilmung von George Orwells Roman „1984“ aus dem selben Jahr. Über die gleiche Art, mit einem Taster am Ende eines Kabels, scheint auch eine Nachbarin vom Haus gegenüber in unsere Umwelt eingreifen zu können – aber sie ist offensichtlich virtuell.
Laut Ausstellungskatalog beschäftigt die Gruppe CAMP sich mit der „stetig verändernden Machtstruktur aktueller Gesellschaften“ und stellt die Frage, „wer befand sich historisch und befindet sich heute vor der Scheibe, wer dahinter?“. Damit greift dieses Kunstwerk weit über das Theater und sein Gebäude hinaus, das über den Innenhof gespannte schwarze Netz erinnert nicht nur an die Beleuchtungskabel und Seile hinter und über Bühne und Saal, sondern „metaphorisiert Systeme der Teilhabe: vom Zugang zu Strom – der sich heute nahezu überall in privater Hand befindet – bis hin zur digitalen Kommunikation und den Möglichkeiten der Manipulation, die darin liegen.“ Manche Besucher mag das Nachdenken am Kunstwerk tatsächlich so weit führen, anderen ist das zu viel Geschwurbel – alle aber können Spaß daran haben, diese ganzen Dinge einmal auszuprobieren.
Mit einem Gebäude, das es gar nicht mehr gibt, hat sich Christian Odzuck beschäftigt. Im Winter 2016/2017 ist nämlich das markante Hochhaus der Oberfinanzdirektion (OFD) an der Andreas-Hofer-Straße abgerissen worden. Odzuck beschäftigt sich in seiner Kunst immer wieder mit Architektur und verwendet dabei gerne alte Bauteile wieder. Das hat er an dieser Baustelle im Ostviertel auch getan: wer hier regelmäßig an der OFD vorbei gekommen ist, erkennt eine auffällige Treppenanlage wieder, wie sie so ähnlich bis vor ein paar Monaten noch um einen hohen Pylon führte. Bei Odzucks Kunstwerk „OFF OFD“ ist es aber nicht die originale Säule mit der schrägen Spitze, sondern ein vereinfachter Nachbau, zusammengesetzt aus Betonfertigteilen, und die Treppe ist aus Holz. Sie führt auch nicht wie früher in ein Gebäude, sondern auf eine lange Brücke oder Tribüne. Von hier aus können die Besucher die vor sich liegende Baustelle beobachten, auf der allerdings noch gar nicht viel passiert. Beleuchtet wird diese Szenerie von der sehr hohen Laterne, die vom ehemaligen Parkplatz der Oberfinanzdirektion hierhin versetzt wurde – immerhin ein Original zwischen all den Attrappen.
Das ganze Ensemble steht auf einem Schotterbett, das aus aufbereitetem Bauschutt der OFD gewonnen wurde. Weil hier bald eine neue Gesamtschule entsteht, wird diese Skulptur – übrigens die größte der SP 2017 – nicht erhalten bleiben. „Ich will auch nicht, dass es angekauft wird, das soll wirklich weg,“ hat uns Christian Odzuck im Interview verraten, dabei aber augenzwinkernd offen gelassen, ob unter geänderten Voraussetzungen die Karten neu auf den Tisch gelegt werden können. Er betrachtet dieses große Werk als „Raumskizze“ und fragt sich, wie es Teil eines Alltags werden kann: „Was passiert, wenn ich hier jeden Tag mit dem Fahrrad dran vorbei fahre? Natürlich gibt es einmal die Kunstwelt, die es im Kunst-Kontext wahrnimmt. Aber mich interessiert auch, wie es für Leute ist, die hier wohnen oder alltäglich vorbeikommen.“ Vielleicht können die den ortsfremden Kunstfreunden ja erklären, worauf sich das Ganze bezieht, denn selbsterklärend wird es für Auswärtige nicht sein. Immerhin sind im Ausstellungskatalog ganz viele kleine Bilder von der alten OFD und von ihrem Abriss zu finden, verwirrenderweise bunt gemischt mit anderen Architektur-Fotos aus Münster.
Die Schrebergärten in Münster hatten Jeremy Deller schon bei den Skulptur Projekten 2007 neugierig gemacht – so etwas kannte er aus seiner englischen Heimat nicht. Die vielen Anlagen im ganzen Stadtgebiet waren ihm damals durch Luftaufnahmen im Internet aufgefallen und haben ihn schließlich zu einem Projekt inspiriert, das nun abgeschlossen wird. Das Highlight sind jetzt aber nicht die vielen Taschentuchbäume, die vor zehn Jahren gepflanzt und seitdem von den Vereinsmitgliedern gepflegt wurden, sondern die vielen Tagebücher, die Deller an über 50 Vereine ausgegeben und für die diesjährigen Skulptur Projekte wieder eingesammelt hat.
Etwa 30 davon füllen nun ein Bücherregal in einer Gartenlaube im Kleingartenverein Mühlenfeld am Lublinring, ganz in der Nähe vom Pumpenhaus. Man muss schon etwas Zeit mitbringen, um in diesen Chroniken der letzten zehn Jahre zu blättern. Manche sind ziemlich knapp gehalten und dokumentieren nur das Wetter der Monate, Vereinsfeiern und Mitgliederversammlungen. Andere quellen geradezu über vor Geschichten und Zeichnungen, eingeklebten Blättern, Fotos und Zeitungsberichten. Auch wenn hier manchmal nur Klischees bestätigt werden, bieten diese dicken Bücher einen Einblick in diese spezielle Form der Alltagskultur und damit auch des Lebens in der Stadt Münster.
Die bekannteste Skulptur ist in diesem Jahr Wohl der Steg, über den Ayşe Erkmen die Besucher mehr oder weniger über das Wasser laufen lässt. Bei den Skulptur Projekten 1997 waren es noch alte Heiligenfiguren, die mit dem Hubschrauber durch Münsters Himmel geflogen wurden, heute sind wir selbst Bestandteil des Kunstwerks, wenn wir über die Skulptur „On Water“ durch das Hafenbecken waten. Dabei gehen wir einen Weg, der von der Stadtplanung nicht vorgesehen ist, und überwinden dabei auch gleich eine Art Grenze. Denn die Nordseite, der sogenannte Kreativkai, ist seit einigen Jahren schon ziemlich durchgestylt mit seinen schicken Restaurants und Bürogebäuden. An der gegenüberliegenden Seite sind noch einige Baustellen, Reste der alten Industrie und mit dem Hill-Speicher ein altes Gebäude, dessen Zukunft noch geklärt werden muss. Diese Verbindung von der A-Seite zur B-Side hatte Erkmen sicher auch im Hinterkopf, als sie diesen ungewöhnlichen Weg anlegte, nicht nur die religiöse Anspielung auf das Wandeln über das Wasser. Damit hat sie eine aktuelle Diskussion über die Architektur in der Stadt aufgegriffen, die aber am Publikum größtenteils vorbei geht. Die meisten auswärtigen Besucher haben einfach nur Spaß an dieser ungewöhnliche Kneipp-Tour. Die ist ab jetzt übrigens nur noch von 12 bis 19 Uhr möglich.
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