Autorin Selina Spetter, die sich für die Aufklärung über das Fetale Alkoholsyndrom stark macht, im Interview mit ALLES MÜNSTER Kolumnistin Iris Brandewiede.
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IB: Hallo und herzlich Willkommen Selina, in der guten Stube – heute in einer Innenstadt-Eisdiele hinter besonders großen Eisbechern.
SS: (mit vollem Mund): Hallo!
IB: Selina, du hast mit 26 Jahren bereits deine Biografie veröffentlicht. Sie ist am 9.9. erschienen, dem Tag des alkoholgeschädigten Kindes. Wie kam es dazu?
SS: Ich hatte 2014, da war ich 20 Jahre alt, eine harte Zeit. Es war sehr stressig, vor allem die Arbeit. Ich war in einer richtigen Krise. Da bin ich auf die Idee gekommen, alles aufzuschreiben. Daraus ist dann nach und nach ein ganzes Buch über mein Leben mit dem FAS geworden.
IB: „FAS“ – das hört sich nach einer Abkürzung für Insider an. Was verbirgt sich hinter diesen Buchstaben?
SS: FAS ist die Abkürzung für das Fetale Alkoholsyndrom. Wenn eine Frau in der Schwangerschaft Alkohol trinkt, kann das Kind verschiedene Schädigungen davontragen. Es gibt auch die Abkürzung FASD, für den amerikanischen Oberbegriff Fetal Alkohol Spektrum Disorder. Auf Deutsch bedeutet das Fetale Alkoholspektrumstörung.
IB: Wie kommt es, dass du das so gut erklären kannst, obwohl du keine Ärztin bist?
SS: Ich selbst habe das FAS, das ist das sogenannte Vollbild des Fetalen Alkoholsyndroms. Ich habe darüber inzwischen viel Fachliteratur gelesen und bin auch im Internet immer auf der Suche nach Neuigkeiten. In Social Media sind andere Betroffene unterwegs, die wie ich aufklären, und es gibt inzwischen viele gute Fernseh-Dokumentationen zum FAS. Die kann man auch auf Youtube finden.
IB: Wie bezeichnest du selbst das, was das FAS für dein Leben bedeutet – eine Krankheit, eine Behinderung, ein Syndrom…?
SS: Das FASD hat sehr viele Facetten. Es hat Symptome, die dem ADHS gleichen, viele Kinder haben Lernschwierigkeiten und Verhaltensprobleme. Oft wird das FASD erst nach einem langen Weg diagnostiziert. Bei mir wirkt sich das FAS besonders stark psychisch aus. Das behindert mich sehr. Das FAS ist eine Behinderung.
IB: Du hast dich entschieden, für andere etwas aus deinem eigenen Leid und deinem großen Wissen über vorgeburtliche Alkoholschädigungen zu machen, indem du aufklärst.
SS: Ja, ich möchte mit meiner Biografie daran mithelfen, über das FAS aufzuklären, da es noch zu unbekannt in der Gesellschaft ist und es noch viel Unwissenheit gibt. Es gibt noch nicht viel, das aus der Sicht von Betroffenen wie mir geschrieben wurde. Kinder, die geistig beeinträchtigt sind, können nicht so viel über sich berichten. Und ich möchte, dass den Kindern mögliches Leid erspart bleibt. Das FAS ist zu 100% vermeidbar, wenn die Schwangere auf Alkohol verzichtet. Vielleicht hilft es, wenn ich das Leben aus meiner Sicht beschreibe.
IB: Gerade als du mit viel Energie in deine Präventionsarbeit eingestiegen warst, kam Corona. Erinnerst du dich an deine letzte Aktivität vor dem Lockdown?
SS: Ja, am 17. Februar 2020 war ich an der Fachhochschule hier in Münster eingeladen. Da habe ich auf einer Fachtagung aus meiner Biografie vorgelesen. Ich stand vor einem großen Hörsaal voller Fachleute. Das war aufregend, schön und ich habe sehr viele positive Rückmeldungen bekommen.
IB: Wie ist es dir danach, in der langen Coronazeit ergangen?
SS: Es ging mir gar nicht gut, es hat mich ziemlich aus der Bahn geworfen. Von einem Tag auf den anderen gab es keine Lesungen mehr. Auch privat gab es sehr starke Einschränkungen. Dafür habe ich aber endlich meine Biografie über den agenda Verlag veröffentlicht.
IB: Ich habe gehört, dass ein großer Fachmann auf dem Gebiet des Fetalen Alkoholsyndroms sogar dabei geholfen hat?
SS: Ja, Professor Hans-Ludwig Spohr aus Berlin hat mir ein Vorwort geschrieben, darauf bin ich sehr stolz. Von ihm besitze ich ein dickes Fachbuch. Und jetzt hat er eins von mir – mit Widmung!
IB: Du verarbeitest sehr schmerzhafte Erfahrungen in deinem Buch. Wie schaffst du es, dass Worte deine Wut besiegen, so wie der Titel es sagt?
SS: Ich schreibe Texte, manchmal werden auch richtige Rap-Songs daraus. Dadurch verarbeite ich meine Wut und auch andere Emotionen. Ich kann das nicht steuern, es kommt wann es kommt. Und dann tut es mir meistens sehr gut.
IB: Du hast eine sehr berührende Ballade, eigentlich ein Gedicht an deine leibliche Mutter, mit münsteraner Musikern vertont. Einen kleinen Einblick in die Musikproduktion gibt ein Youtube Video, das wir hier verlinken.
SS: Das waren Musiker einer Heavy Metal Band. Wir hatten viele gute Ideen und wollten eigentlich gern ein richtiges Präventionsvideo drehen. Vielleicht wird es noch was.
IB: Gibt es aktuelle Projekte, die du gerade in Arbeit hast?
SS: Ja, es gab zwei schöne Aktionen: Die Journalistin Charlotte Köhler hat ein Interview mit mir geführt, das noch diesen Monat im Onlinemagazin RUMS erscheinen wird. Und ich hatte einen Auftritt im Podcast „Chaos im Kopf“ von Wolfgang Werminghausen. Und: Seit der Coronazeit ging es mir immer schlechter und schlechter. Vor Kurzem habe ich endlich ein neues Gedicht geschrieben. Er heißt „Depression“. Aber es ist noch nicht ganz fertig. Wenn es fertig ist, möchte ich daraus einen Song machen.
IB: Viele Menschen erleiden gerade, genau wie du, seelische Folgeschäden der Pandemie und ihrer harten Einschränkungen. Du scheinst das zu tun, was du am Besten kannst: Du lässt dich nicht unterkriegen, so lange Worte deine Wut besiegen…?
SS: Naja… Ich gebe mein Bestes.
IB: Apropos: Das Beste kommt zum Schluss. Die gute Fee schenkt dir die Erfüllung dreier Wünsche! Hier ist der Ort, sie zu äußern, auf dass sie in Erfüllung gehen mögen!
SS: Dass mein Buch anderen hilft, FAS besser zu verstehen. Eine gute Wohnung finden. Und Glücklich sein.
IB: Wird gemacht! Danke, Selina, für deine Zeit und viel Erfolg für deine weitere Aufklärungsarbeit!
Auszug aus Selina Spetters Ballade „Schau mal, Mama – Alkohol in der Schwangerschaft“
Schau mal Mama was du mir angetan hast,
ich bin noch so klein und kämpfe seit der ersten Nacht.
Ich zitter, weine, und schreie durch den Entzug.
Und jetzt hätte ich eigentlich vom Leben schon genug.
Doch ich bin neugierig, was es noch gibt auf dieser Welt.
Also halte ich durch und kämpfe wie ein kleiner Held.
Ja, das Essen fällt mir noch ziemlich schwer.
Spucke meistens alles aus und bin unterernährt.
Aber mit der Zeit nehme ich zu an Gewicht.
Doch dass ich „anders“ bin, sieht man mir schon an im Gesicht.
…
Schau mal Mama, ich bin seit gestern volljährig,
aber deshalb ist mein Weg nicht weniger beschwerlich.
Denn jetzt gibt es Stress mit Ärzten und Behörden.
Die meisten wollen vom FAS nicht mal was hören.
Auf dem Papier steht zwar, dass ich erwachsen bin,
doch mein Verhalten ist oft wie bei einem Kind.
Bin überfordert von manchen Situationen
und treffe leider nicht immer den richtigen Ton.
Ich werde ein Leben lang Unterstützung brauchen,
ob bei der Arbeit, beim Wohnen oder beim Einkaufen.
Häufig zeigt sich FAS auch „unsichtbar“:
Man sieht es mir nicht an, doch die Einschränkung ist da.
Ja, du siehst, FAS ist facettenreich,
die Ausprägung, gibt es in schwer, mittel, leicht.
Ich habe dir gezeigt, was es für Auswirkungen hat,
also bitte trink keinen Alkohol in der Schwangerschaft.
„Ich lasse mich nicht unterkriegen, so lange Worte meine Wut besiegen – Mein Leben mit dem Fetalen Alkoholsyndrom“ Biografie von Selina Spetter, erschienen im agenda Verlag Münster 2021
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