Unser Gastautor Marius Münster ist mal wieder über einen neuen Roman gestolpert, von dem er gleichermaßen irritiert wie fasziniert ist. Und der uns einen schonungslosen Blick ins Innenleben von psychisch kranken Menschen gewährt.
Wir öffnen das Buch Seelenfraktur von Shirin Vorsmann und sind nach den ersten gelesenen Sätzen augenblicklich Geiseln. Von Anfang an werden wir Leser nicht gerade zimperlich behandelt. Gerne ertragen wir die ersten Schmerzen. Denn uns trägt diese Geschichte durch einen pompösen Kinosaal, der durchflutet wird von kathedralen Klängen. Aus voluminösen Sätzen steigen die Geister vertrauter Filmszenen empor, um uns sofort darauf mit sensationell neuen Bildern zu verblüffen. Der Soundtrack wird gleich mitgeliefert. Nach den ersten Seiten sind wir bereits hypnotisiert, verzaubert-verloren. Seelenfraktur – dieser karge Buchtitel ist nur eine Täuschung. Wie vieles in diesem aktuell erschienenen Roman. Die junge Münsteranerin entführt uns in fremde seltsame Welten. Es grüßt David Lynch. Zwischen Ballerburg und BlingBling. Zwischen Psychiatrie und Hollywood-Glamour. Zwischen „Kalte, graue Asche“ und „Viele viele bunte Smarties“. Nur Mut! Denn nach den ersten Elektroschocks werden wir von der Autorin entschädigt durch einen Trip ins Wunderland hinter den Spiegeln. Es grüßen Lewis Carroll. Und Alice.
Pompös aber gleichzeitig lässig, oder besser „nonchalant“, manövriert uns Shirin Vorsmanns Architektur der Sprache durch das Labyrinth ihrer Geschichte. Eine Story, deren zum Tod verurteilte Protagonisten hervorstechen durch ihre innere und äußere Zerrissenheit. Eine Story, die uns, die wir bereits nach den ersten Sätzen Gefangene sind, auf jeder Seite noch ein wenig enger fesselt.
Shirin Vorsmanns Diktion ist für eine Frau Jahrgang 1985 so außergewöhnlich, dass wir zwischendurch den Plot beinahe vergessen und uns berauschen an den empathischen Beschreibungen von Menschen und Situationen. Die Figuren im Roman „sprechen“ nicht. Sie flöten, säuseln oder zwitschern. Die Augenfarbe einer der männlichen Figuren ist nicht einfach nur blau. Seine Augen sind „Blaue Fenster“ und „Ozeane, in deren azurblauer Substanzlosigkeit weder Zeit noch Raum von Bedeutung sind“. Und ein Lächeln von Personen in Hollywood wird zu einem grenzdebilen BlingBling-Grinsen. Robert Altman lässt grüßen. Eine Frisur wird zum „BettyPage-Pony“ und schon sind wir bei Pulp Fiction und Tarantinos Zitierfreude, die Shirin Vorsmann teilt, allerdings meistens gekonnt dezent und oft nur für Film-, Musik-, Architektur- oder Modefreaks erkennbar.
Aber worum geht es eigentlich genau in Seelenfraktur? Die Handlung ist im Grunde schnell erzählt. Andererseits ist sie aber wieder so tricky aufgebaut, dass Leser sich gerne mal innerhalb der Geisterbahnfahrt durch die verschiedenen Handlungsebenen, die sich schlussendlich zu dem einen Roman ergänzen, verirren können: Ana Amanda Schapmann, ist eine gespaltene Persönlichkeit. Nicht so eine, die hin und wieder unter Stimmungsschwankungen leidet. Nein. A., wie Freunde sie nennen, ist eine echte Psychobraut. Shizo eben. Anas finsteres Ich ist Amanda. Deren Willenskraft versucht immer wieder, Ana zur Selbstaufgabe, ja zum Selbstmord zu befehlen. Mit ihren riesigen schwarzen Kulleraugen sieht Ana/Amanda aus wie ein MangaMädchen. Ihre durch modisches Styling aufgepimpte knöcherne Figur, lässt sie – Ende Zwanzig – wirken wie ein minderjähriges Model im JunkieLook.
„Einmal irre, immer irre!“ Ana will dieses gesellschaftliche Etikett nicht akzeptieren. Und so sucht sie Hilfe und Heilung. Sie landet in der Berliner Psychiatrischen Klinik von Dr. Schwarzenberg, der sie mit starken Psychopharmaka schachmatt setzt und seine dadurch in einem traumatischen Würfel gefangene Patientin gewissenlos vergewaltigt. „Sie wird sich an nichts erinnern. Und falls doch, wird sie ihrer Erinnerung nicht traue“. Soweit Teil 1 der Geschichte, die mit einem BigBang endet.
Der zweite Teil des Romans spielt in Hollywood, wo eine neureiche Amanda ihren gewagten Drahtseilakt tanzt zwischen Ehe und OneNightStands, zwischen edler kubistischer Wohnidylle und der durch Drogen inspirierten Nachtwanderungen in die eigene Hölle. Wie verlinken sich die Lebenslinien von Ana aus Berlin und Amanda aus Hollywood? Es bleibt spannend! Shirin Vorsmann ist keine Karla May, die in irgendeinem Elfenbeinturm für Schriftsteller hockt und sich fabulöse WildWest-Abenteuer aus den unendlich wüsten Steppen der Psychiatrie zusammen fantasiert. Sie weiß genau, worüber sie schreibt, da sie in Seelenfraktur viel eigenes Erleben verarbeitet hat.
In Münster gib es derzeit noch keinen Termin für eine Begegnung mit der Autorin. Aber bereits am kommenden Donnerstag, dem 26.04.2018 liest Shirin Vorsmann im DESPERADO in Bielefeld aus ihrem aktuellen Roman. Lesetermine in Berlin sind bereits in Planung.
Erschienen ist das Buch Seelenfraktur von Shirin Vorsmann im Berliner Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf, es hat ca. 288 Seiten und kostet 14,99 EUR.
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