Der TatWort-Macher und Organisator der diesjährigen NRW-Landesmeisterschaft, Andreas Weber, bereitet mit seinem Warmup den Boden für die nachfolgenden Slam Poeten, die zwischen 5 und 6 Minuten Zeit haben, ihre Texte vorzutragen. Nicht nur der äußeren Form oder der Art der Darbietung, sondern auch der thematischen Vielfalt zollt das Publikum entsprechenden Applaus, was sich wiederum in der Wertung der zuvor gewählten Jury niederschlägt. Von rhythmisch vorgetragenen Märchen bis Rapgesang, von Gedichten bis Prosa ist alles möglich – das ist eben Poetry Slam: nicht nur, sondern auch. Von Lamentieren über das Alter und den Sprachgebrauch, über Verflossene, hin zu alltäglichen Szenen in der U-Bahn, bis zu Schockthemen, die das Publikum verstummen lassen – alles ist drin.
Nur Herumsitzen kommt nicht in Frage: Texte zum Mitmachen und vor allem Hinhören
Den Einstieg macht Björn Gögge, der einen „Mitmachtext“ vorträgt: immer, wenn er die Faust in die Luft streckt, muss das Publikum einen Würgelaut nachmachen. Und es gibt vieles, was ihn zum kotzen bringt – vor allem regelmäßig die Wahl der Wörter des Jahres oder erst recht der Unwörter des Jahres. Sein Vorschlag, nicht noch ein Forum für solche Wörter zu bieten, wird johlend vom Publikum gewürdigt.
Eine völlig andere Richtung schlagen die Texte von Tobias Engbring und Niko Sioulis ein, die Themen aufgreifen, die hochemotional besetzt sind. Engbring liest in der Ich-Form und nach wenigen Sätzen schwant dem Publikum, dass die Person in der Geschichte anders als andere ist: ein Pädophiler. Inspiriert von dem offenen, anonym verfassten Brief eines Pädophilen an eine Zeitung versucht Engbring den schmalen Grat zwischen Andersartigkeit und Straffälligkeit zu verdeutlichen, indem er einen Menschen zeichnet, der gegen und mit seinen Trieben kämpft.
Ebenfalls ein unbequemes Thema präsentiert Niko Sioulis, der beschreibt, wie ein Mensch von Jugendlichen niedergeschlagen und am Boden weiter getreten wird. In seinem Text nimmt er mal die Opfer-, dann die Zuschauer- und dann wieder die Täterperspektive ein: wer fühlt oder denkt was? Und welchen Anteil besitzt eigentlich die Gesellschaft daran, die viel zu sehr mit sich beschäftigt ist, keine Unbequemlichkeiten will, aber nicht nur durch Nicht-Eingreifen, sondern auch durch Nicht-Hilfe-Rufen auffällt; die einfach ausblendet. Welchen Anteil besitzen die Medien? Sioulis gibt keine Antworten, aber regt zum Nachdenken an.
Bedauerlich blass bleiben die beiden einzigen Frauen dieser Veranstaltung – während Luca Swieter vor allem durch Geschwurbel auffiel, bemüht sich die Gewinnerin des letztjährigen Preises durch humorvolle Übertreibungen das Publikum für sich zu gewinnen. Das überwiegend jüngere Publikum honoriert Sandra Da Vina, aber für das Finale des Abends reicht es nicht, das ist rein männlich besetzt.
Alltagsgrauen in deutschen Diskotheken und U-Bahnen
Eher die klar humorvolle, aber nicht weniger beachtete Schiene fahren Micha-EL Goehre und Björn Rosenbaum, die Situationen beschreiben, in denen sich viele auf der einen oder anderen Seite wiedererkennen dürften. Der Bielefelder EL Goehre ist ein alter Hase im Biz, aber eben auch ein Metaller. Und als solcher hat er einen Bildungsauftrag. Leider dankt es ihm das Diskopublikum nicht und will statt neuer Songs immer nur die gleichen alten Kamellen. Da muss man auch mal andere Saiten aufdrehen.
Auch Rosenbaum plagt sich mit bildungsfernen U-Bahnmitfahrern herum, die meinen, ihre Umwelt mit uninteressanten Banalitäten beschallen zu müssen. Seine Sätze treffen ins Mark, nicht umsonst gehört er zu den drei besten des Abends. Angesichts der grenzdebilen Ausdrucksweise eines Fahrgasts ist er sich sicher: „Für meine Generation wird es keine Rente geben“ und setzt mit einiger Fassungslosigkeit später nach: „Der Soundtrack meiner Altersarmut!“ Es sind spitzzüngige, pointierte Formulierungen wie diese, vorgetragen mit einer heiseren Stimme, die die Genervtheit für das Publikum geradezu spürbar machen. Vielleicht hat sich gar der eine oder andere ertappt gefühlt. Aber es liegt Rosenbaum fern, sich aufs hohe Ross zu setzen, sondern er verbindet jeweils eine kleine Botschaft mit den vorgetragenen Texten; in diesem Fall: Bildung ist immer noch wichtig, aber sie sollte nicht elitär verstanden werden.
Zwei Sympathieträger, die sich duellieren: zeitgemäßer Lateinunterricht vs. Liebe im Web 2.0
Betrachtet man das große Ganze, so fällt einem vor allem eins auf: ein Publikum, das sich selbst feiert. Da wird zu Beginn des 1. Auftritts nach der Pause trotz vorheriger, humorvoller Bitte seitens des Moderators, das Handy klingeln gelassen, da wird der Slammer auf der Bühne durch Zwischenrufe versucht zu stören und dann versagt auch noch die Technik – aber Christofer mit f lässt sich nicht aus dem Konzept bringen und setzt auch noch eins drauf, als der Moderator ihm ein Ersatzmikro bringen will: „Ach komm, brauch ich nicht“ und macht halt einfach ohne weiter – der schmale Blonde hat Stimme genug. Aber nicht nur Stimme, auch die geballte Kunst des Dissens in Kombination mit altphilologischen Weisheiten fliegen den Gettoschülern – und dem Publikum – um die Ohren, wenn Christofer mit f seinen Lateinlehrer erstmal so richtig loslegen lässt: „Du denkst nicht und dennoch bist du!“ Mit ihm liegt Jason Bartsch am Ende des Abends in einem Kopf-an-Kopf-Rennen.
Gewissermaßen Überraschungssieger ist Jason Bartsch, der mit 50 Punkten und nur 0,5 Punkten Vorsprung den Abend für sich entscheidet. Der im ersten Beitrag fast noch anrührend daherkommende, leicht verschroben wirkende Slam Poet („Eine alte Seele in einem jungen Körper“) gibt im 2. Beitrag mal so richtig Gas und macht mit seinem Rhythmus und seinem Vokabular deutlich, dass er sehr wohl im 21. Jahrhundert angekommen ist: „Morgen ist auch noch ein tag.“ Mit Wortspielen wie diesen (Tag/tag) trifft seine Mischung aus Computersprache und Internetdating offensichtlich den Nerv des Publikums, das ihn mit tosenden Applaus feiert. Lyrik für Computerfreaks. Romanzen für WhatsApp-Süchtige – aber mit einem kleinen Seitenhieb und nostalgischen Rückblicken auf handgeschriebene Briefe statt kryptischer Zeichen aus dem Informatikersprech. Dies und seine bescheidene Art am Ende des Abends zeichnen einen verdienten Gewinner aus.
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