Um bei all ihren Umtriebigkeiten ab und zu wirklich runterzukommen, praktiziert unsere Autorin nicht nur regelmäßig Eselstallwellness im Emsland, sie entspannt sich auch bei ehrenamtlicher Wildhüterei, Abteilung Igel.
Die traurige Wahrheit ist, dass es viel zu hüten gibt. Die stachelige Spezies wird durch unsere Lebensweise buchstäblich ausgehungert. Der Igel, Erdbewohner seit Abermillionen Jahren, ist uns in die Städte gefolgt, weil wir seine natürlichen Lebensräume bebaut haben. Durch Bodenversiegelung, Steingärten und Erderwärmung haben wir seine Hauptnahrungsquelle, die Insekten, dezimiert. Die pieksige Gattung hinkt dem rasanten Wandel evolutionär hinterher:Bei Bedrohung formt er wie im Paleozän vor Schreck eine Kugel und schützt sich mit seinen Stacheln vor jedem Feind. Denkt er. Mensch, Fuchs und Katze wehrt er damit ab – nicht aber Enemy Number One, das Kraftfahrzeug. Der Igel der Zukunft muss ein Panzerstachelkleid tragen, über das ein SUV mal eben drüber hoppeln kann. Für jeden plattgewalzten Igel schicke ich per Stoßgebet ein dringendes Mutationsgesuch an den Schöpfer.
Bleiben der Hunger und die Igelrettung. Und hier bitte mal herhören, liebe Tierliebende im Laienstand: Wir sind nicht in der Lage, aus dem Bauch raus zu entscheiden, ob ein Wildtier hilfebedürftig ist. Das kleine Wesen beim Erstkontakt einfach „der Natur zu entnehmen“ ist deshalb per Gesetz verboten! Nehmt stattdessen lieber Kontakt zu einem gemeinnützigen Verein auf, zum Beispiel Pro Igel, Nestwerk oder Fittiche e.V. Die vermitteln euch an die örtliche Igelretterin. Sie gleicht bei jedem Notfall die Parameter Lebensalter, Gewicht und Jahreszeit miteinander ab. Ist ein Tier zu untergewichtig, um sicher den Winterschlaf zu überleben, kommt ihr ins Spiel. Ihr dürft euch zu sogenannten Päpplern qualifizieren, der untersten Stufe der hiesigen Igelhüterei.
Zur Einarbeitung hockt ihr bei der Ober-Wildhüterin am blanken Holztisch. Sie übt einen helfenden Beruf aus, ist aber an ihrer Dienststelle zu nichts zu gebrauchen. Sie versorgt nämlich Tag und Nacht verwaiste Igelbabys mit einer winzigen Pipette, damit sie zu Igelteenies gedeihen, die feste Nahrung aufnehmen können. So haben sie beste Chancen, sich mit eurer Hilfe noch in dieser Saison den Speck für den ersten Winterschlaf anzufuttern. Im besten Falle werden sie im nächsten Frühjahr als erwachsene Igel in Mutter Natur aufwachen.
Die Vorgesetzte vermittelt per audiovisuellem Fachvortrag notwendiges Basiswissen an die Päppel-Anwärter:innen: die Stellung der Spezies im Tierreich, Biorhythmus, Beuteschema. Sie demonstriert das behutsame Wiegen unter Beachtung grundlegender Parameter der Gesundheitsprüfung am Igelkind Bärbel. Zwei Anwesende kreischen vor Entzücken. Bärbel runzelt genervt die Brauen und zieht das komplette Stachelkleid hinterher. Peinlich berührt lassen die Azubis Stille walten, während Bärbel ihr Gewicht von knapp dreihundertfünfzig Gramm präsentiert. Natürlich müssen die Päppler eine artgerechte Unterbringung für das Pflegetier geloben, ebensolches Futter bereitstellen und die offizielle Päppel-Liste weiterführen. Dann erhalten sie den ersten Stern auf den Schulterklappen der städtischen Wildhüter-Hierarchie, die Lizenz zum Päppeln. Herzlichen Glückwunsch!
Pünktlich erwachen die nachtaktiven Pflegekinder in ihren raschelnden Kartons und „müssen“ erst einmal. Ein strenger Geruch erfüllt das Wohnzimmer. Wer wird nun welches Ziehkind aufnehmen? Alle wollen Bärbel. Die bleibt aber vorerst in fachlicher Obhut. „Cora, 430 Gramm“ klingt ganz nett. Die Heilpraktikerin mit den zwei kleinen Kindern ist schneller. Sie muss nach Hause, der aufgedrehte Nachwuchs reibt sich schon die Augen „Mandy, 480 Gramm“. Der Staatsanwalt im Ruhestand und seine Frau sind die Schnellsten. Bei „Karlsson, 370 Gramm“ zögern die anderen lange genug, dass ich aufzeigen kann. Mein Herz klopft. Die weitere Verteilung bekomme ich gar nicht mit. Jetzt sind alle Pflegeverhältnisse geklärt. Wir verabschieden uns mit Broschüren in der einen und müffelnden Kartons in der anderen Hand.
In seinem neuen Zuhause angekommen, verlässt Karlsson eilig sein pipigetränktes Reisehäuschen. Er beschmatzt und bespeichelt mit abenteuerlichen Verrenkungen sich selbst sowie das um ihn ausgebreitete Laub. Dabei zeigt er seine schwarzen Knopfaugen und Pfötchen, blitzweiße Zähnchen und eine hellrosa Zunge. Jetzt scheint er fit und fein zu sein. Ich setze ihn in sein artgerechtes Außengehege. Sein Bauch ist warm, ein gutes Zeichen. Mit freundlichen Worten schütte ich das beschmatzte Laub hinterher. Der Igel ignoriert mich komplett. Er muss sich um die Inbesitznahme von Zweigen, frischem Laub und dem Holzhäuschen zum Einigeln kümmern.
Drei Wochen lang serviere ich Mahlzeiten aus Rührei und getreidefreiem Katzenfutter. Dazu reiche ich klares Wasser. Als der junge Wilde gut siebenhundert Gramm auf die Waage bringt, öffne ich sein Gehege, damit er noch vor dem Frost ein Winternest in unserem unordentlichen Garten bauen kann. Jetzt ist er ein freier Igel.
Psssst: In jeder frei erfunden Kolumne steckt ein wenig Wahrheit! Hier einige Links für Interessierte: www.pro-igel.de www.nestwerk-ms.de www.igelhilfe.com www.fittiche-muensterland.de Mehr über städtische Wildhüterei und weitere Aktivitäten unserer Autorin finden sich in ihren Büchern, zum Beispiel: "Mit Schirm, Charme & Fahrradhelm", agenda Verlag 2020
- „Menschen mit Behinderung die Tür öffnen“ In der 12. und letzten Folge unserer Serie „Herzensangelegenheiten“ treffen wir die 26-jährige Maike Meuthen aus Telgte, die heute an der südlichen Weinstraße lebt - 8. Dezember 2024
- „Traut behinderten Menschen mehr zu“ In der 11. Folge unserer Serie „Herzensangelegenheiten“ treffen wir den 29-jährigen Welat aus Münster - 10. November 2024
- „Ich hab mein Hobby zum Beruf gemacht“ In der 10. Folge unserer Serie „Herzensangelegenheiten“ treffen wir den 19-jährigen Navid aus Sendenhorst - 6. Oktober 2024