„Ein rätselhafter Schimmer“ – unter diesem Titel ließen sich die begeisterten Zuschauer am letzten Wochenende in der gleich zweimal ausverkauften Friedenskapelle in das Berlin der Zwanziger Jahre entführen. Was sie erlebten, war nicht nur ein Konzert, sondern eine alle Sinne ansprechende Multi-Media-Show, die trotzdem herrlich altmodisch herüberkam. Das lag nicht nur an den Kleidern und den Instrumenten des Trios Größenwahn, sondern auch an den vielen, von alten Darstellungen inspirierten Zeichnungen, die der Grafiker Robert Nippoldt unermüdlich präsentierte. Die konnte jeder sehen, weil über seinem Zeichentisch am Rand der Bühne eine Kamera angebracht war, über die alles auf eine große Leinwand übertragen wurde.
Mal konnte das Publikum Nippoldts Hände verfolgen, wie sie mit flotten Kreidestrichen auf schwarzem Karton die Instrumente der Musiker skizzierten oder mit Tusche und Feder die eine oder andere halbfertige Zeichnung zu Ende brachten. Manchmal wurde daraus fast ein Live-Zeichentrickfilm, zum Beispiel wenn die Dampflokomotive über die Hochbahngleise vom Bahnhof Friedrichstraße fuhr oder wenn sich zu dem Lied von der Kleptomanie immer mehr ausgeschnittene Kleider, Schuhe und Luxusartikel um die schlanke Frau mit dem Bubikopf ansammelten, die sie alle in den ersten großen Kaufhäusern gestohlen hatte. Einige Szenen erinnerten an die surrealen Animationsfilmchen, die Terry Gilliam seinerzeit für Monty Python’s Flying Circus gedreht hat. Zu all dem sang Lotta Stein zahlreiche bekannte und auch weniger bekannte Schlager und Chansons der 1920er Jahre, begleitet von Christian Manchen am Piano und Christoph Kopp am Kontrabass. Beide sind sonst eher im Jazz zuhause, in kleinen Dosierungen war das hier mitunter zu hören.
Was den Schlager vom Chanson unterscheidet, konnten aufmerksame Zuhörer hier auch lernen: „Ich bin verliebt in dich“ wird in der Operette gesungen und im Schlager schlicht „Sei lieb zu mir“. Heißt es aber „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“, dann handelt es sich eindeutig um einen Chanson. Kaum hatte Lotta Stein das gesagt, da sang sie schon dieses Lied von Friedrich Hollaender, aus dessen erster Zeile der Titel des Abends stammt, und das untrennlich mit Marlene Dietrich und dem Film „Der Blaue Engel“ verbunden ist. Das war natürlich die Gelegenheit, um Zeichnungen von ihr und von weiteren Filmstars der Zwanziger Jahre zu zeigen. Sehr anschaulich wurde es, als Robert Nippoldt gezeichnete Spielkarten mit den deutschen Reichskanzlern der Weimarer Republik nach der Dauer ihrer Amtszeiten zeigte, jeweils eine Sekunde lang für jeden Monat. Das geriet mitunter ziemlich kurz, während bei einigen dann doch etwas Zeit blieb, um ein paar weitere Informationen unterzubringen. So lernte das Publikum ganz nebenbei, dass Heinrich Brüning der einzige Reichskanzler ohne Bart war.
Auch wenn es hier anders klingen mag: der Abend war höchstens nebenher eine kleine Lehrstunde, der Schwerpunkt lag auf Unterhaltung und Amüsement. Den Witz brachte Robert Nippoldt oft mit ironischen Kommentaren ein, die er wie Zwischentitel aus alten Stummfilmen auf die Bildchen warf. Und die Musiker waren sich auch nicht zu schade, um immer mal wieder ihre Instrumente zu tauschen. Die kleine Trommel, die Snare Drum, stand ohnehin herrenlos auf der Bühne herum und wurde von jedem mal bedient, der gerade seine Hände frei hatte. Und alle, wirklich alle haben irgendwann gesungen. Pianist Christian Manchen überraschte dabei mit Falsett-Stimme bei „Heute Nacht oder nie“, damals ein großer Schlager für den Opern-Tenor Jan Kiepura, hier aber witzig bebildert mit allerlei immer seltsamer werdenden Liebespaaren. Auch der Zeichner Robert Nippoldt griff gelegentlich zur Ukulele und sang schließlich mit Lotta Stein im Duett bei „Schöner Gigolo, armer Gigolo“ oder am Ende mit allen dreien „Ein Freund, ein guter Freund“ aus dem frühen Tonfilm „Die Drei von der Tankstelle“. Ein besonders guter Sänger ist er aber nicht, seine Musikalität zeigte sich viel besser beim Pinselballett zur Melodie von „Tea For Two“, bei dem ganz nebenbei ein möglicherweise teures Gemälde entstand (zwinker, zwinker).
Überhaupt waren über den Abend verteilt eine ganze Reihe unterschiedlicher Zeichentechniken zu sehen. So bediente Nippoldt sich zur Ballade von der „Seeräuber-Jenny“ der Technik von klassischen Scherenschnitten und brachte damit nicht nur viel Bewegung, sondern ausnahmsweise auch etwas Farbe in die ansonsten fast auschließlich schwarz-weiße Optik. Die gehört schließlich zu den typischen Stilmitteln des münsterischen Grafikers, wie sie aus seiner erfolgreichen Buchtrilogie „Gangster“, „Jazz“ und „Hollywood“ über das Amerika der 20er und 30er Jahre bekannt sind. Hier stammten die meisten Illustrationen aus seinem neuen Buch „Es wird Nacht im Berlin der wilden Zwanziger“, das nach über fünfjähriger Arbeit vor einigen Wochen endlich im Taschen-Verlag erschienen ist. Mit dem Bühnenprogramm waren Robert Nippoldt und das Trio Größenwahn allerdings schon vor gut zwei Jahren gestartet. „Damals reichte es gerade mal für eine knappe Stunde,“ verriet uns der Pianist Christian Manchem nach dem Konzert in der Friedenskapelle, „aber so nach und nach ist immer mehr hinzu gekommen. Und jetzt ist es komplett.“ Damit hat er wirklich recht: diese „poetische Amüsierschau“, wie die Künstler es nennen, ist nicht nur komplett, sondern eine richtig runde Sache geworden, eine außerordentlich kurzweilige Zeitreise. Das Publikum bedankte sich dafür mit Standing Ovations.
Wer "Ein rätselhafter Schimmer" mit Robert Nippoldt und dem Trio Größenwahn bisher verpasst hat, bekommt am Freitag, 23. März 2018 noch einmal die Gelegenheit, sie in der Friedenskapelle Münster zu erleben. Und am Sonntag, 25. Februar 2018 sind Robert Nippoldt und Lotta Stein zu Gast bei der nächsten Adam Riese Show in der Cloud am Germania Campus. Weitere Infos über www.ein-raetselhafter-schimmer.de
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