Seit „Nebenberuf: Wildhüterin“ ist es bekannt, „Münster – Mariupol“ hat es bestätigt und „Nemo findet“ gibt der Beobachtung recht: Wer mit einer speziellen Gabe gesegnet ist, muss nicht suchen, um zu finden.
Ein ganz normaler Montagnachmittag. Ich kehre leicht erschöpft von der Arbeit heim, setze die Kanne auf den Herd und werfe einen Blick aufs Handy. Eine Nachricht von der Kleinen. Natürlich ist das Kind längst groß und bleibt nur aufgrund der Schwesternfolge familienintern die Kleine. Just kündigt sie an, heute ganz spontan vorbeizukommen. Sie sitze schon im Zug, zum Abendessen werde sie es schaffen. Spontan kickt die Energie wieder ein, dabei ist der Kaffee noch nicht durch! Ich stürze das Getränk brandheiß durch die Kehle und flitze zum Einzelhändler des Vertrauens. Was auf den Zettel gehört, ist völlig klar: Die Zutaten fürs Lieblingsgericht. Der Liebste funkt bereits vom Rückweg, er werde das Kochen übernehmen. Das Timing passt genau, mein Herz hüpft: Ich gönne mir einen kleinen Abendspaziergang, um die Reisende vom Bahnhof abzuholen! Grinsend, mit federndem Schritt, kleinem Rollkoffer an der Hand und Rucksack auf dem Rücken, begegnet mir eine der schönsten jungen Frauen, die ich je gesehen habe.
Wir plaudern über Uni und Freundinnen, Urlaub und Familie. Beinahe zu Hause angekommen, nehmen wir unter einem Auto am Bordsteinrand eine Bewegung wahr. Wir halten inne. Jetzt, da der Rollkoffer stillsteht, hören wir das Miauen. Ein graues Fellknäuel eilt auf uns zu, streicht meiner Tochter um die Beine und teilt uns in massiver Lautstärke höchst nachdrücklich mit:
„RETTET MICH! ICH HABE SEIT TAGEN NICHT RICHTIG GEGESSEN! NIEMAND STREICHELT MICH! NIEMAND VERSTEHT MICH! ICH BRAUCHE LIEBE! ABER VOR ALLEM ESSEN! HATTE ICH SCHON GESAGT, DASS ICH SEHR HUNGRIG BIN? UND VIEL LIEBE BRAUCHE?!?!?“
Wir sind verwirrt. Mit wunderschönen bernsteinfarbenen Augen und dem seidigen graublauen Fell sieht das Tier aus wie die Werbebotschafterin eines Katzenfutters, mit dem wir unsere Lieblinge noch nie verwöhnt haben. Das Klischee einer Streunerin erfüllt die Katze ganz und garnicht.
Die Streichelprobe gibt ihr dennoch Recht: Sie ist sehr dünn und muss seit Langem die Bürste, unerlässliches Pflege-Utensil solcher Edeltiere, nicht mehr gesehen haben. Alle dem arttypischen Putzen unzugänglichen Körperstellen sind verfilzt. In unseren besorgten Austausch hinein schreit es:
„SAG ICH DOCH!!! ICH KRATZE MICH DEN GANZEN TAG! DER FILZ GEHT NICHT AB! ES NERVT, ES STINKT UND JUCKT! UND ICH HABE HUNGER!!! RETTET MICH!!!“
Wir sind verunsichert. Wir kennen alle Tiere in dieser Nachbarschaft. Die Katze hier haben wir nie zuvor gesehen. Wir glauben dem Hilfeschrei. Gleichzeitig beschleichen uns leise Skrupel, einfach ein fremdes Haustier zu retten. Was, wenn es nur zum Dramatisieren neigt, um Aufmerksamkeit zu heischen? Vielleicht lebt die Katze erst seit kurzem in der Nachbarschaft? Wir unterbrechen die Streicheleinheiten. Die Katze protestiert. Probehalber setzen wir unseren Weg fort. Kurz zuckt die Katze beim Geräusch des Rollkoffers zusammen. Dann folgt sie uns auf dem Fuß. Dreihundert Meter hält sie durch. Hier siegt die Angst. Sie duckt sich unter das nächste Auto.
Wir sind hin und her gerissen. Einerseits war das doch eben eindeutig die gefühlte Reviergrenze der Katze – oder? Das spricht doch dafür, dass sie dort wohnt – oder? Andererseits fühlen wir uns schuldig: Die Botschaft hätte eindeutiger nicht sein können. Vielleicht nehmen wir aber auch Hilflosigkeit in einem zarten Rassetier wahr, das sich in Wahrheit sehr wohl selbständig behaupten kann?
Wir schauen unter das Auto. Die Katze ist verschwunden. Eine spontane Umfrage unter abendlichen Heimkehrern ergibt: Alle in der Nachbarschaft kennen die zutrauliche schwarze Katze und den scheuen Tigerkater. Alle kennen die Hunde des Viertels nebst Haltern. Niemand kennt die graublaue Katze mit den Bernsteinaugen.
Zuhause angekommen. Das Lieblingsessen steht auf dem Tisch. Aufgeregt erstatten wir dem Liebsten Bericht. Nach dem Essen kehrt die Unruhe zurück. Wir drehen noch eine Runde durchs Viertel. Keine Katze. Wir setzen die Anwohnerbefragung fort. Die Ermittlungen bleiben erfolglos. Wir müssen unsere Bemühungen ausweiten. Ich maile den örtlichen Tierschutzvereinen und unserem Tierarzt einen Steckbrief der Katze nebst Foto. Die Igelretterin meines Vertrauens bekommt eine Kopie. Sie ist bestens vernetzt. Dann drücken wir der Katze die Daumen.
Fortsetzung folgt!
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