Seit Anfang Februar ist Rainer Furth Münsters neuer Polizeipräsident, übernommen hat er diese Aufgabe von Hajo Kuhlisch, der zeitgleich in den Ruhestand ging. Furth war zuvor bereits Polizeipräsident in Krefeld. Viel Zeit zum Luftholen und Ankommen war ihn nicht vergönnt, Die COVID-19-Pandemie hat auch tiefgreifende Auswirkungen auf den Polizeialltag. Dass Furth aber auch zahlreiche weitere Themen auf der Agenda hat, verdeutlicht er im Telefoninterview mit ALLES MÜNSTER.
*****
Herr Furth, Sie waren von 2008 bis 2020 Polizeipräsident in Krefeld. Münster ist für Sie aber alles andere als neu?
Das stimmt, ich bin nach dem Abitur nach Münster gekommen und habe hier studiert. Nach dem Studium und Referendariat habe ich meine Arbeit in Münster aufgenommen. Ich bin also sozusagen seit 40 Jahren in Münster zuhause.
Sie waren bereits zur Zeit von Hubert Wimber einer der Favoriten bei der Suche nach einem neuen Polizeipräsidenten für Münster. Warum hat es damals nicht geklappt?
Das habe ich mich auch lange gefragt! [lacht]
Krefeld hat die schnellste Einsatz-Reaktionszeit in NRW. Woran liegt das und haben Sie den Ehrgeiz, das für Münster auch hinzubekommen?
Einsatz-Reaktionszeit ist ein ganz interessantes Thema. Immer dann, wenn Menschen die 110 wählen, weil sie in irgendeiner Weise in Not sind oder Hilfe brauchen, dann erwarten sie, dass die Polizei möglichst schnell da ist. Die Einsatz-Reaktionszeit hängt von vielen Dingen ab, zum Beispiel wo die Wachen sind, wo die Fahrzeuge gerade in der Stadt unterwegs sind, wie die Verkehrssituation ist und wie die Einsatzbelastung aussieht. Also wenn Sie sich vorstellen, dass jemand am Samstagabend anruft, wenn gerade viel los ist in der Stadt und sich darüber beschwert, dass sein Nachbar so laute Musik hört, dann dauert es überall etwas länger, bis die Polizei kommt.
In anderen Situationen – wir sprechen als Polizei von „Täter am Ort“ – wenn es also wirklich schnell gehen muss, wenn der Einbrecher im Haus ist oder der Ladendieb gerade festgehalten wird, erwarten die Menschen natürlich ganz besonders schnelle Hilfe. Ähnlich ist das bei Verkehrsunfällen, bei denen jemand verletzt wurde. Die Einsatz-Reaktionszeit in Krefeld war unter anderem so gut, weil wir auch eine Gruppe von Fahrradfahrern im Innenstadtbereich hatten, also dort, wo viele Straftaten tagsüber geschehen. Teilweise waren die Kolleginnen und Kollegen dadurch blitzschnell vor Ort. Wir überlegen auch in Münster, was man noch verbessern kann. Klar ist: Die Polizei muss da sein, wenn sie gebraucht wird.
Mit dem Wechsel nach Münster übernehmen Sie eine Paragraph 4-Behörde. Was bedeutet das?
Der Paragraph 4 findet sich in der sogenannten Kriminalhauptstellenverordnung, das ist eine Vorschrift, die Zuständigkeiten regelt. Paragraph 4 bedeutet, dass wir in Münster über umfassende polizeiliche Möglichkeiten verfügen. Größere Schadensereignisse, erpresserischer Menschenraub, Geiselnahme, in solchen Fällen braucht man in der polizeilichen Organisation einen ständigen Stab und weitere Experten, die mit solchen Situationen professionell umgehen können. Die Amokfahrt vor zwei Jahren in Münster war eine solche Situation.
In Krefeld gab es zum Jahreswechsel bedeutende Erfolge bei der Strafverfolgung durch den Datenabgleich zwischen Polizei, Zoll, Familienkasse, Steuerfahndung und den Kommunalämtern. Wie sahen diese Erfolge aus und ist das ein Modell für Münster?
Das Landeskriminalamt hat ein Instrumentarium entwickelt und rechtlich geprüft. Wenn alle Stellen mitmachen, kann man damit Kindergeld- und Sozialleistungsbetrug aufdecken. Das funktioniert durch einen Abgleich von Daten der Kindergeldkasse mit denen anderer Behörden. In der Abgabenordnung gibt es eine Vorschrift, die die Übermittlung von Daten ermöglicht. Damit kann man zum Beispiel Kinder finden, für die zwar Kindergeld bezahlt wird, die es aber tatsächlich gar nicht gibt. Damit einher gehen oft weitere, ausbeuterische Dinge im Bereich Sozialleistungsbetrug.
Man kann sich das so vorstellen, dass es in bestimmten Städten Häuser gibt, in denen 100 Menschen gemeldet sind. Und wenn man mal schaut, wer da tatsächlich wohnt, kann es sein, dass man von den gemeldeten Menschen niemanden antrifft, aber dafür andere. Und dann stellt man sich natürlich die Frage, wenn die doch minderjährige Kinder haben, gehen die denn zur Schule? Und wenn diese Kinder in der Schule gesagt haben, wir gehen zurück nach Rumänien, Bulgarien oder sonst wo hin, im Rahmen der europäischen Freizügigkeit können sie sich ja abmelden, dann hatte bisher niemand Veranlassung zu vermuten, dass hier etwas nicht richtig laufen könnte. Aber wenn man mal hinterfragt, ob die Kinder, für die hier Kindergeld gezahlt wird, überhaupt wirklich jemals da waren, dann kommt man vielleicht zu dem Ergebnis, dass die nicht hier, sondern in einer anderen Stadt unter einem anderen Namen leben.
Man kann sich vorstellen, dass im Bereich Kindergeld erheblicher Missbrauch möglich ist. Vor allem wenn man weiß, dass in der Vergangenheit für Kinder ein einziges Mal Kindergeld beantragt wurde und dann in der Regel erst nach 18 Jahren die Eltern das erste Mal gefragt wurden, ob es das Kind noch gibt. Sie können sich also vorstellen, dass man, wenn man mit einem kleinen Kind einen Kindergeldbetrug anlegt, als Straftäter die nächsten zehn bis 15 Jahre Ruhe hat.
Besonders im Bereich der Clan-Kriminalität, der Prostitution und bei Wohnungseinbrüchen haben Sie in Krefeld „klare Kante“ gezeigt. Das sind Vokabeln, an die man bei Münster nicht als erstes denkt. Täuscht das?
Es gibt Kriminalitätsbereiche, die entdeckt man, wenn man sich darum besonders kümmert. Prostitution an sich ist ja nicht verboten. Es ist nach dem Prostituiertenschutzgesetzt konkret reglementiert, unter welchen Bedingungen Frauen und Männer der Prostitution nachgehen können und wenn diese gesetzlichen Bestimmungen eingehalten werden, ist das nichts für die Polizei und auch nichts für die Ordnungsbehörde. Wenn man allerdings genauer hinschaut, dann sind viele von den knapp 18-jährigen Frauen, die aus Osteuropa kommen und hier auf der Straße stehen, möglicherweise gar nicht freiwillig hier. Dann müsste man sich ja vorstellen, dass eine 14- oder 15-Jährige in Rumänien gedacht hat, dass sie unbedingt nach Münster oder nach Krefeld oder nach Duisburg gehen muss, um sich auf die Straße zu stellen und sich für 20 Euro zu prostituieren. Das halte ich für eher unwahrscheinlich und deswegen vermute ich, dass viele dieser Menschen, die hier als Ärmste der Armen mit 18 Jahren auf der Straße stehen, Opfer von Menschenhandel sein könnten.
Rund um das Thema Prostitution gibt es ohnehin ein Magnetfeld für Kriminalität. Wenn man sich die unterschiedlichen Deliktsfelder mal ansieht, dann kann man ahnen, dass es nicht nur um Steuerhinterziehung geht. Viele Frauen, die hier der Prostitution nachgehen, haben nach eigenem Bekunden das halbe Strafgesetzbuch schon selbst durchlebt, als Opfer.
Ist auch die Clan-Kriminalität in Münster ein Thema?
Keine Form der Kriminalität würde ich ausschließen. Allerdings ist Clan-Kriminalität in den Städten in Nordrhein-Westfalen unterschiedlich ausgeprägt.
Gerade Straftaten gegen ältere Menschen, Stichwort „Enkeltrick“, haben Sie bei der Veröffentlichung der letzten Kriminalstatistik besonders verurteilt. Tatsächlich wurden in den letzten drei Jahren auf diese Weise in Münster drei Millionen Euro erpresst. Sehen Sie hier besonderen Handlungsbedarf? Wie wollen Sie das zukünftig vermeiden bzw. reduzieren?
Vielleicht sollte ich zuerst klarstellen, dass das keine Erpressung ist, sondern eine besonders perfide Art des Betrugs. Nehmen Sie das Beispiel Enkeltrick. Da meldet sich jemand aus einem Callcenter bei einer älteren Dame oder einem älteren Herrn, deren Vornamen im Telefonbuch nach älteren Menschen klingen. Das Callcenter muss nicht in Deutschland sein. Der Anrufer ist so geschult wie ein Versicherungsverkäufer und bringt ältere Menschen dazu, durch ihre Antworten Geheimnisse preiszugeben. Diese Gespräche laufen oft so ab: „Weißt du Josephine, wer hier anruft?“ „Bist du das?“ „Ja, ich bin das, dein Enkelkind“ „Bist du das, Klaus?“ „Ja, ich bin der Klaus“. Und dann hängt die Frau gewissermaßen am Angelhaken und der Anrufer macht mit ihr was er will.
Oft hält er sie lange am Telefon unter Vortäuschung irgendeiner Geschichte fest, dass man in Not sei, dass gleich irgendjemand kommt und Geld braucht, weil es einen Krankheitsfall gibt oder dass es irgendein Problem mit dem Auto gibt. Deswegen ist es Aufgabe der Polizei, zunächst durch Aufklärung und Prävention dagegen vorzugehen. Wir tun das hier in Münster, indem wir dafür sorgen, dass ältere Damen und Herren, die üblicherweise ein paar Hundert Euro in der Woche oder im Monat abholen, bei der Bank schon auffallen, wenn sie plötzlich 20.000 Euro von ihrem Sparbuch abheben wollen oder das Schließfach öffnen möchten. Die Menschen bei den Banken und Sparkassen sollen dann aufmerksam werden und daran denken, dass es sich um das Opfer eines Betrugs handeln könnte. Auch dafür sind wir da, die Polizei kommt nicht erst, wenn etwas passiert ist.
Wir wollen die älteren Menschen nicht gängeln, aber wir wissen, wie professionell die Betrüger arbeiten. Es fallen viele, viele drauf rein und ich habe die Sorge, dass wir die Hälfte aller Fälle nicht kennen, weil die alten Menschen aus Scham darüber, was ihnen passiert ist, gar nicht darüber berichten und auch nicht zur Polizei gehen.
Mit der 110 macht man also nichts verkehrt?
Mit der 110 macht man nichts verkehrt! Es ist auch eine Masche, dass sich jemand am Telefon als Polizist ausgibt und es erscheint im Display sogar die 110, was wir niemals machen würden. Dann sagt jemand, dass die Wertsachen gefährdet seien, und dass gleich ein Kollege vorbeikomme und sie in Sicherheit bringe. Wenn man dann auflegt, sollte man die 110 selber anrufen und dann werden die echten Polizisten Ihnen sagen, dass Sie das bloß nicht machen sollen und dass sie sofort vorbeikommen werden. Dann haben wir aber auch ein echtes Polizeifahrzeug und kommen auch in Uniform!
Sich gerade die Gruppe der älteren Menschen gezielt als Opfer auszusuchen, um vielleicht im Einzelfall eine Demenz oder eine Einsamkeit auszunutzen, um eine große Beute zu machen, das halte ich persönlich für außerordentlich perfide! Daher erarbeiten wir gemeinsam mit Banken und Sparkassen gerade eine Broschüre, die jeder Bürgerin und jedem Bürger zugänglich gemacht werden soll.
Im Bereich Hauptbahnhof findet jede siebte Straftat in Münster statt. In den letzten Jahren ist die Zahl der Delikte zwar gesunken, dennoch scheint dort eine Art Hotspot zu sein. Planen Sie hier weiterführende Maßnahmen?
Rund um das Thema Hauptbahnhof in Münster muss man differenzieren und genau hinschauen. Es gibt dort seit vielen Jahren eine Drogenszene, die sich in der Nähe des Drogenkonsumraums aufhält, weil sie dort Drogen mit sauberem Besteck konsumieren können. Es gibt aber rund um die Drogenszene, so ähnlich, wie ich das bereits bei der Prostitution erwähnt habe, immer eine hohe Begleitkriminalität. Diese ist es, die uns keinesfalls egal sein darf. Es gibt seit Jahren Beschwerden rund um den Hauptbahnhof und man kann diese Beschwerden nicht mit Verweis auf den Umstand abwimmeln, dass das für eine Großstadt wie Münster eine Normalität sei. Kriminalität rund um den Hauptbahnhof muss man nicht hinnehmen.
Die Polizei ist nicht nur dazu da, Straftaten aufzuklären, sondern auch um Straftaten im Vorfeld zu verhindern. Deswegen werden wir zukünftig, und das nicht nur kurzfristig, sondern dauerhaft, nach Auswertung der Tatzeiten und Tatbegehungsweisen vor Ort sein, um Straftaten zu verhindern. Es geht ja nicht nur um den Drogenverkauf oder einen Drogenankauf, sondern es geht ja auch darum, dass Menschen überfallen, Opfer von Raubstraftaten, Beleidigungen, Körperverletzungen und anderem werden.
Inzwischen haben wir ausgewertet, wann, wo, und was genau passiert, deswegen sind wir jetzt verstärkt dort aktiv. In den ersten sechs Wochen, in denen die Maßnahmen eingeführt wurden, hatten wir – und ich sage jetzt ausdrücklich vor Corona – keinen einzigen Raubüberfall in dem Bereich rund um den Hauptbahnhof. Die gezielten Kontrollen setzen wir nach der Corona-Kontaktsperre fort.
Steht die Polizei im Zuge der Corona-Pandemie vor besonderen Herausforderungen?
Ich würde gerne zunächst auf die Ist-Lage eingehen: Wir haben jetzt eine Coronaschutzverordnung, die am Ende des vergangenen Monats in Kraft getreten ist. Diese enthält klare Regelungen und trotzdem gibt es natürlich mit neuen Befugnissen für Polizei und Ordnungsämter immer auch einen größeren Abstimmungsbedarf. Denken Sie an die Versammlung der Gegner der Uran-Transporte in der letzten Woche, da hatten wir plötzlich 45 Menschen bei einer Versammlung, obwohl das nach dem Gesetz aktuell verboten ist.
Es gibt Ausnahmemöglichkeiten und während bisher die Polizei die Versammlungsbehörde war, regelt jetzt die Coronaschutzverordnung, dass über Ausnahmen die Stadt entscheidet. All das muss natürlich eingeübt sein. Zusammenfassend will ich aber sagen, dass die Zusammenarbeit mit der Stadt und dem Ordnungsamt gut funktioniert. Vor allem verhalten sich die Münsteraner sehr gut! Wenn ich durch die Stadt fahre mit dem Auto oder dem Fahrrad, dann sehe ich keine Ansammlungen, selbst am Aasee scheinen es die Menschen inzwischen zu beachten.
Rund um die Drogenszene am Bremer Platz haben wir Bedingungen geschaffen, dass auch dort die Einhaltung der Kontaktsperre beachtet wird. Alle Menschen – ich denke, das muss man nicht extra betonen – verdienen denselben Schutz, auch die Menschen, die sich in der Drogenszene bewegen. Deswegen finde ich es auch absolut richtig, dort präsent zu sein. Was auch immer noch in dem Zusammenhang mit Corona kommt, wir sind auf alle Szenarien vorbereitet. Ich wünsche allen, die noch nicht erkrankt sind, dass sie gesund bleiben mögen und dass diejenigen, die es erwischt hat, bald genesen werden!
Zum Abschluss eine Frage, die man in Münster stellen muss: Sehen Sie sich den Münster-Tatort und Wilsberg an? Sieht so Polizeiarbeit aus?
Der Münster-Tatort ist ein Muss! Den muss man sehen, das ist große Unterhaltung. Das hat mit der Arbeit der Kriminalpolizei nichts zu tun. Das gilt ebenso für Wilsberg.
Herzlichen Dank für dieses Interview!
- Solidarität mit Mehmet Staatsschutz involviert: Rassistische Anfeindungen münden in Bereichsbetretungsverbot - 22. Dezember 2024
- Fotostrecke: skate-aid Night (23.11.2024) - 25. November 2024
- Im Maschinenraum der Diktatur Ausstellung „Alles wissen wollen“ informiert über die Stasi - 25. November 2024
4 Kommentare