Der Flügel auf der Bühne erinnert an einen Komapatienten – so viele Kabel hängen heraus, laufen auf einen Tisch zu und sind mit zahlreichen Computern verbunden. Im Bühnenrücken verliert ein Gebirge seine Schneedecke, wird von Wolken verdunkelt oder in kubistische Formelemente vereinzelt. Die Grandbrothers, Erol Sarp und Lukas Vogel, sorgen für mächtig Stimmung und beweisen wieder mal, dass es zu den größten kulturellen Highlights dieser Stadt gehört: das audiovisuelle Picknick.
Um kurz nach neun kämpft Wilko Franz sich einen Weg nach vorne. Das ist gar nicht so leicht. Denn die übliche Bestuhlung ist zum Teil aufgehoben. Auf mitgebrachten Decken oder Kissen können sich die Besucher auf den Boden legen oder flätzen, Käse, Äpfel oder Pizza essen – eben wie bei einem richtigen Picknick. Und das Pumpenhaus ist bis auf den letzten Platz ausverkauft oder wie Franz es formuliert: „Das bringt uns an den Rand des Sicherheitskonzeptes“. Natürlich weiß Wilko Franz, dass die meisten der überwiegend jungen Gäste wegen der Grandbrothers gekommen sind. Der gestrige Abend versprach aber ein Doppelkonzert. Zunächst spielte das Chad Lawson Trio, und da sollte es ruhiger sein. Deshalb waren die mahnenden Worte zu Beginn durchaus sinnvoll, das Knuspern, Knacken und Kramen doch bitte auf die Pause zu verschieben.
Schon betritt Chad Lawson mit seinen beiden Streichern die Bühne. Wer diese etwas schnoddrige, joviale Art erlebt, wie Lawson im breiten Amerikanisch mit dem Publikum kommuniziert, dürfte sich gewundert haben, wie sentimental und unter die Haut gehend Lawson angereicherte Chopinvariationen spielt. Violine und Chello sind dabei die richtigen Verstärker. Man spürt förmlich, wie das Auditorium dahin fließt. Wäre es nicht so ein kitschiges Bild, könnte man sagen: da war nur Liebe im Saal. Nach einer guten Stunde ist dann der Liebe genug. Ein bisschen brauchen die Grandbrothers für ihre Installation. Zeit für die Zuschauer, draußen etwas abzukühlen. Und dann endlich nehmen Erol und Lukas ihre Plätze ein, Erol am Flügel, Lukas kümmert sich um die Elektronikecke.
Immer bizarrer wird die Videoinstallation im Hintergrund, eruptiv, flackernd, farbig, dann wieder nur die Konturen des Gebirges, hinter dem Nebel aufsteigt, sich bewegendes Licht verleiht dem Gebirge etwas organisches, lebende Berge. Diese sagenhafte optische Spektakel ist den beiden Künstlern Aquiet und Francis zu verdanken. Schon nach den ersten Takten der Musik wippen Füße, bewegen sich Oberkörper vor und zurück, tanzen ein paar Menschen an der Seite – mehr geht einfach nicht. Die Mischung aus Klassik und Elektronik ist unglaublich bewegend, und Lukas erklärt dann auch irgendwann, was es mit der Verkabelung auf sich hat: „Überall im Flügel haben wir kleine Hämmerchen angebracht, die durch einen Impuls auf Holz oder Metall schlagen.“ Die erzeugten Töne werden dann über den Computer verstärkt und gemischt. Letztlich werden somit alle Klänge im Flügel erzeugt.
Zwischen den einzelnen Stücken erklärt Erol, dass sie gerade die zweite Scheibe aufgenommen haben. Davon spielen sie „das darf man ja eigentlich gar nicht sagen“ ihr Lieblingsstück, das keinen Namen trägt, „New Track Number Four“. Das Pumpenhaus befindet sich derweil im Grandbrothers-Fieber, und saugt Stücke wie „Rotor“ in sich auf, die Hämmerchen klopfen auf die Seele. Ein wunderschöner Abend mit einem kleinen Wermutstropfen: Ein Jahr lang wird es kein audiovisuelles Picknick mehr in Münster geben, wie Wilko Franz erklärt. Wer nicht genug bekommen hat, kann allerdings mit einem eigens gecharterten Bus mit ins Künstlerdorf nach Schöppingen fahren, wo es eine Fortsetzung gibt.
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