Unglaublich, wieviel Lärm 13 pubertierende Mädchen machen, wenn sie kreischen, in unterschiedlichen Stimmlagen, sich abwechselnd scheinbar ein Großfeuer ankündigen. Dabei ist das wirklich großes Theater, das die belgische Produktion der Regisseurin Lies Pauwels da gestern Abend im Pumpenhaus zeigte. „Hamiltoncomplex“ heißt das Stück, das heute Abend wiederholt wird.
Da ist richtig viel Dampf drin, und das nicht nur, weil zwischendurch gekreischt wird. In englischer, vor allem aber in niederländischer Sprache wird gespielt. Zwar befinden sich an den Bühnenrändern auch Monitore, auf denen deutsche Übertitel eingeblendet werden. Doch die Sprachmelodie, die Energie, die Dramatik und Dynamik bleibt erhalten. Das ist ganz wichtig, schon deshalb, weil ein solches Theaterstück in Deutschland kaum vorstellbar ist. Schließlich geht es um das Spannungsfeld „Mädchen/Frau“ oder wie die Schauspielerinnen sagen „not fish, not meat“. Da kokettieren die jungen Damen mit ihrer Sexualität, heben ihr Röckchen, träumen von Jungs, von Männern.
Sie nennen sich „Eternity, Gift, Charity, Melody oder Lovely“. Wie klingt so etwas auf Deutsch? Ewigkeit, Geschenk, Nächstenliebe? Zu Anfang gibt es Instruktionen wie im Flugzeug, und die Mädchen tragen auch Uniformen wie Flugbegleiterinnen. „In case of emergency…“ Vor allem möglichen wird gewarnt: vor Gepäckstücken, Verletzungen, übertragbaren Krankheiten. Dann fragen die Mädchen, ob es Pädophile im Saal gibt. Natürlich gibt es keine Handzeichen – und doch ist das Thema. In Belgien wie in Deutschland. Aber Mädchen werden ja erwachsen, sind mal 13 und erlangen Geschlechtsreife, entdecken sich selbst, und werden entdeckt.
Das Bühnenbild ist übrigens in seiner Spärlichkeit genial. Ein großer Bogen, gespickt mit Teddybären, Luftschlangen, Luftballons spannt sich über den Bühnenrücken, davor steht der Traum aller Mädchen: Ein lebensgroßes Pferd mit aufgeklebten Einhorn.Wie könnte das Spannungsfeld stärker symbolisiert werden als durch zum Teil verfallene antike Säulen, die für das „altern“ stehen? Inmitten der Mädchen, die zwischendurch auch tanzen, einzelne lange Wortbeiträge liefern oder gar emotional schaurige Geschichten erzählen, sitzt auch ein körperbehindertes Kind. Die junge Frau ist aber nicht isoliert, sondern wird getragen von der Gesellschaft, im wortwörtlichen und auch im übertragenen Sinn. Der einzige Mann in dem Stück hat dann auch alle Hände voll zu tun. An ihm müssen sich auch die erotischen Gelüste abarbeiten.
Ich kann mich an kaum ein Stück eines deutschen Theaters erinnern, bei dem es so viel langanhaltenden, authentischen Applaus gegeben hätte, Pfiffe, standing ovations.
- Das sprechende Tier im Jazz-Keller - 8. Februar 2017
- Mit flotter Musik schmecken Crêpes viel besser - 23. Januar 2017
- Früher waren Dick und Doof mal zwei - 23. Januar 2017