An dieser Stelle treten in der zweiten Staffel unserer Empowerment-Serie monatlich junge Erwachsene auf die Bühne, die mit Mut und Konsequenz Barrieren überwinden und ihre Herzensangelegenheiten verfolgen. Die Fotografin Ingrid Hagenhenrich hat einen unvergleichlich liebevollen Blick auf die Menschen vor ihrer Kamera. Sie nimmt sich Zeit, jede Persönlichkeit auf eigene Art zu portraitieren. Iris Brandewiede gibt ihren Worten Raum. In der zwölften und letzten Folge treffen wir die 26-jährige Maike Meuthen aus Telgte, die heute an der südlichen Weinstraße lebt.
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Im Alter von sechzehn Jahren erlitt ich eine schwere Hirnblutung während eines Schüleraustauschs in Amerika. Dreieinhalb Jahre danach konnte ich mich nicht bewegen und nicht sprechen. Heute kann ich meine Kompetenz als Referentin für Inklusion insbesondere im Hinblick darauf wertschätzen, dass ich sowohl das Leben als gesunde uneingeschränkte Person kenne, aber auch das Leben als Mensch mit Behinderung. Ich nutze jede Möglichkeit, um über das Thema Inklusion zu sprechen und meine Erfahrungen und mein Wissen weiterzugeben. Zuletzt habe ich diesbezüglich bei einem Fachtag für Lehrkräfte im regionalen Fortbildungszentrum der Bezirksregierung Münster in Tilbeck gesprochen.
Eine gute Schule steckte damals das benötigte Vertrauen in mich und meine kognitive Leistungsfähigkeit. Suchte nach Wegen der Verständigung, um mir neue Kommunikationsarten zu ermöglichen, beispielsweise durch einen PC mit Augensteuerung und Medien für Unterstützte Kommunikation. Woraufhin in einem nächsten Schritt in Kooperation mit mir und meinen Eltern nach möglichen weiteren Bildungswegen gesucht werden konnte. Ferner vermittelte diese gute Schule lebenspraktisch nahe Inhalte. Sie hat mir gezeigt, dass wir und auch wie wir ein lebenswertes Leben trotz Behinderung führen können. So wurde den Schülern und Schülerinnen zum Beispiel trotz Behinderung die Verantwortung übertragen, Klassenreisen vollständig und eigenständig zu organisieren.Außerdem wurden Inhalte vermittelt wie: „Welche Versicherung brauche ich?“, „Wie bereitet man gesundes Essen zu?“, bis hin zu „Wie erstelle ich eine Steuererklärung?“ Diese Konzentration auf lebenspraktische Aufgaben und Verantwortungsbereiche, sowie die Stärkenorientierung hatte ich bis dato an Regelschulen nicht erfahren. Und gerade dieser letzte Punkt „Wie erstelle ich eine Steuererklärung?“ hat mein Interesse für meine heutige Arbeit geweckt.
Vor meiner Hirnblutung war es mein Plan, Zahnärztin zu werden. Leider ist dies aufgrund meiner körperlichen Einschränkungen nicht mehr möglich. Aber ich sehe meine Behinderung nicht als Hindernis, sondern als neue Möglichkeit an. Heute bin ich mit der Unterstützung einer Arbeitsassistenz in Vollzeit als Finanzbeamtin tätig.
Leider ist mit dem Ziel ein selbstbestimmtes Leben zu führen, auch ein enormer, zusätzlicher Bürokratieaufwand verbunden. Zum Beispiel halbjährliche bis jährliche Antragsstellungen für Assistenzkräfte und Pflegegeld.
Aber auch die Beantragung von Hilfsmitteln wie eines Rollstuhls, können sich als Papierschlachten darstellen, die sich aus eigener Erfahrung bis zu einem Jahr hinziehen können, um endlich die Genehmigung im Widerspruchsverfahren zu erhalten. Dies ist ein langer Kampf im Bürokratiedschungel, wenn man mit einer Behinderung lebt, nicht laufen kann und auf gewisse Hilfsmittel unbedingt angewiesen ist. Diese zusätzliche Bürokratie erschwert es, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, für einen Menschen, der es eh schon schwer hat, durch einen höheren Kraft- und Zeitaufwand die alltäglichen Anforderungen überhaupt zu erfüllen. Sie können sich sicherlich vorstellen, dass all dies, neben der Behinderung und der Vollzeittätigkeit, ohne die Unterstützung Dritter kaum zu bewältigen ist.
Auf mich macht es den Eindruck, als fehle es auch oftmals an dem Bewusstsein, dem Verständnis und der praktischen Bereitschaft, Menschen mit Behinderungen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.
Mir scheint, als würden die Entscheidungsträger, die über das Ausmaß eines selbstbestimmten Lebens maßgeblich mitentscheiden können, eher kostenorientiert und nicht bedürfnisorientiert handeln. Gerade in den Versorgungsämtern im Süden Deutschlands sowie in den zuständigen Kassen ist dies bei Entscheidungsfindungen noch nicht angekommen.
Ich plädiere an alle Entscheidungsträger, Menschen mit Behinderungen die Tür zu öffnen, damit sie ein selbstbestimmtes Leben führen können. Inklusion kann so einfach sein. In uns steckt mehr als nur die Behinderung.
Alle Teile dieser Reihe gibt es hier: https://www.allesmuenster.de/tag/Herzensangelegenheiten
Weiterführende Infos von Incluencer:innen und Aktivist:innen „Die Neue Norm“: Podcast zu aktuellen Inklusionsthemen: https://dieneuenorm.de/podcast Raul Krauthausen (https://raul.de/): DER AKTIVIST für Barrierefreiheit und Wertschätzung von Diversität Zu den Autorinnen: Instagram-Account von @ingridhagenhenrich Instagram Account von @irisbrandewie.de Homepage von Ingrid Hagenhenrich: https://ingrid-hagenhenrich.com/
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