„Meine Menschen finden mich!“ Interviewreihe „Münster, deine Künstler:innen“ / Folge 5 mit Ingrid Hagenhenrich

DEMENZ (Foto: Ingrid Hagenhenrich)
DEMENZ (Foto: Ingrid Hagenhenrich)

Im 5. Teil der Interviewreihe „Münster, deine Künstler:innen“ spricht ALLES MÜNSTER Kolumnistin Iris Brandewiede mit der Fotografin Ingrid Hagenhenrich. 

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IB: Herzlich Willkommen, liebe Ingrid! Durch mein Interview mit Ulrike Rehbein vom Frauenkollektiv „FreiFrau“ bin ich auf deine Arbeit aufmerksam geworden. Dazu später mehr. Als erstes geht mir beim Interview einer Fotografin durch den Kopf: Du lebst künstlerisch von der Nähe zu deinen Motiven. Wie hast du die letzten zwei Jahre für dich gestalten können?

IH: Es ist vielleicht ungewöhnlich angesichts der merkwürdigen Zeiten so was zu sagen: Die letzten zwei Jahre waren fotografisch ein Höhenflug. Dabei kam mir nach dem Abschluss des Mammutprojekts „Schönlinge“, der nach vier Jahren und zehn bundesweiten Ausstellungen zu Ende gegangen war, oft die Frage: Kannst du überhaupt noch mal so etwas Starkes und Intensives auf die Beine stellen? Wer das Künstlerleben bisschen kennt, weiß, dass der Zweifel ein unangenehmer Geselle ist, deren Besuch aber nicht wegzudenken ist. Aber ich wurde von meinen Menschen „gefunden“.

IB: Das klingt ziemlich einfach.

IH: Ja, so ist es: Meine Menschen finden mich!

IB: Wir können wir uns dieses Finden unter den Umständen der letzten beiden Jahre überhaupt vorstellen? In deinem „Fensterprojekt“ hast du deinen ganz persönlichen Blick auf die Zeit der Lockdowns mit der Kamera festgehalten. Menschen zeigen sich dir in ihrem Alltag. Die Momente wirken so wahrhaftig als fühlten deine Motive sich vollkommen unbeobachtet. Wie schaffst du es, dass sie sich dir so ungeschützt zeigen mögen?

IH: Wenn mich jemand interessiert, dann sammle ich meinen ganzen Mut zusammen und spreche Menschen an. Und vielleicht ist der Grund, warum die Menschen auf den Bildern wahrhaftig wirken der, dass sie in Wirklichkeit nicht beobachtet werden. Ich beobachte nicht, und schon gar nicht aus der Ferne. Stattdessen bin ich einfach ein gleichberechtigter Teil einer Begegnung. Mit einem kleinen Unterschied: Ab und zu ist die Kamera vor meinem Auge.  Mich interessieren Menschen wirklich, mit ihrem ganzen Menschsein. Und ich habe das Glück, dass ich auf diese Welt mit einem liebevollen Blick schauen kann. Das spüren die Menschen; sie spüren, dass mein Interesse aufrichtig ist und sie spüren auch, dass das Bloßstellen nicht in Frage kommt.

MUTTERSEELENALLEIN (Foto: Ingrid Hagenhenrich)
MUTTERSEELENALLEIN (Foto: Ingrid Hagenhenrich)

IB: Es klingt gleichzeitig vollkommen unglaublich und völlig glaubwürdig, dass dir das unter den Bedingungen von Isolation und Abstand gelungen ist! Erzähle uns ein bisschen mehr über deine Arbeit.

IH: Da meine Fotografie durch die emotionale und teilweise auch durch körperliche Nähe entsteht, hat mir die Corona Situation zuerst echt die Luft weggenommen. Aber da die Neugier und das erfinderische Wesen des Menschen nicht kaputt zu kriegen sind, öffneten sich ganz neue Möglichkeiten. Und die haben mir bewiesen, dass ich mich nicht fürchten muss. Ich konnte die Situation fotografisch weiter begleiten: Demenzkranke und ihre Angehörige, sinnsuchende Jugendliche, Menschen, die sich liebten, Menschen, die sich verabschieden mussten und auch die ganz neuen Menschen, die gerade auf die Welt gekommen sind.

IB: Wie hat dich das münsteraner Frauen-Kollektiv „FreiFrau“ gefunden, das du während der coronabedingt sehr vereinzelt gestalteten Proben für ihr Stück „MutterSeelenAllein“ mit deiner Kamera begleitet hast?

IH: Das Zusammenfinden mit dem FreiFrau-Kollektiv ist wieder eine der Geschichten, die uns zeigen, dass eigentlich keine Begegnung umsonst oder sinnlos ist: Der Kameramann und Regieassistent Jens Krause hat mich dazu geholt. Wir sind uns, glaube ich, vor zehn Jahren bei einer Hochzeit begegnet, die er filmisch und ich fotografisch begleitet habe. Er hatte mich anscheinend die ganzen Jahre über im Auge behalten…

IB: Deine Foto-Ausstellung begleitet jetzt die Aufführungen im Kreativhaus, die endlich wieder live und vor Publikum stattfinden dürfen. Wie fühlst du dich, wenn du deine Bilder ausgestellt siehst?

IH: Wie ich mich fühle? Zuerst ist natürlich die Freude da, dass es überhaupt gelungen ist, das Stück über die merkwürdigen Zeiten hinaus auf und über die Bühne zu kriegen…. Es war für mich ein ungewöhnliches Projekt, da es ging nicht darum, einfach nur zu dokumentieren, sondern die Worte, Gedanken und Situationen zu illustrieren.

Aber schwer war es nicht, denn das Stück ist eigentlich in so vielen Hinsichten eigentlich über mich. Ich kam bei der Begleitung gar nicht aus dem Kopfnicken raus, ein paar Tränen mussten aus dem Gesicht gewischt werden. Auch die Kamera musste ich ab und zu zur Seite legen. Einige Szenen sind nicht im Stück oder Film zu finden, trotzdem „hängen“ sie hier mit, weil sie mich sehr stark berührt haben. Die Ausstellung ist so aufgebaut, dass man sie unabhängig vom Stück ansehen kann, aber am stärksten ist es natürlich, wenn man in der Pause oder nach der Vorstellung noch mal schaut und die einzelnen Worte, Dialoge oder Monologe wahrnehmen kann und konkret zu dem Geschehen auf der Bühne auf einmal zuordnen kann.

Durch die Begleitung ist ein zartes Band zwischen dem „Kollektiv“ und mir entstanden und neue Projekte wurden geboren. Ich bin sicher, dass wir uns wiedersehen werden.

FENSTERSHOOTINGS (Foto: Ingrid Hagenhenrich)
FENSTERSHOOTINGS (Foto: Ingrid Hagenhenrich)

IB: Das hört sich geheimnisvoll an. Wir halten die Augen offen! – Gibt es schon Projekte für die nächste Zeit, die dir besonders am Herzen liegen?

IH: Ja, die gibt es. Ich werde mich auf den Weg machen und Menschen suchen und besuchen, die mir etwas über sehr, sehr späte Liebe erzählen können. Und ich möchte unbedingt weiter erforschen, was Fotografie alles noch kann. Nicht auf der technischen Ebene, sondern, was die Fotografie, oder besser gesagt das „Sich- fotografieren-Lassen“ mit einem Menschen macht. Ich habe festgestellt, dass ein wahrhaftiger und liebevoller Blick durch die Fotografin auf den Fotografierten etwas bewegen kann… in die richtige Richtung. Manchmal begegnen mir Menschen, die sehr scheu sind, die die Kamera fürchten, die ihr eigenes Abbild nicht ertragen können, oder die felsenfest behaupten, sie wären „hässlich“. Wenn sie sich auf unsere Begegnung aber einlassen, erfahren sie etwas ganz anderes.

IB: Auch für dich kommt hier im Interview das Beste zum Schluss. Die gute Fee schenkt dir die Erfüllung dreier Wünsche, Ingrid. Hier ist der Ort, sie zu äußern, auf dass sie in Erfüllung gehen mögen!

IH: Ich wünsche mir, dass wir uns alle mehr oder minder frei und zugleich beschützt fühlen können. Außerdem, dass bei sehr besonderen Momenten, sich direkt in meinem Auge eine Kamera befindet, die ich durch einen Wimpernschlag auslösen kann. So könnte ich die Augenblicke festhalten, ohne die Technik zwischen mir und meinem Gegenüber. Wie das mit dem Speichern und Teilen dann sein sollte, dass muss die Fee irgendwie auch noch lösen. Und ein ganz pragmatischer Wunsch: Mein Gartenhäuschen sollte ein neues Dach bekommen.

IB: Wird gemacht! Liebe Ingrid, danke für deine Zeit!

Ingrid Hagenhenrich lebt in Münster.

Mehr Infos zu ihrem Wirken findet ihr hier und hier. Im Hotel "Guter Hirte" läuft bis zum 15. Oktober 2021 eine Fensterbildausstellung, außerdem im Kreativ-Haus eine Ausstellung zum FreiFrau-Thaterstück „MutterSeelenAllein“.

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