Mit „Fack ju Göhte“ (2013) gelang Regisseur Bora Dagtekin der Überraschungshit schlechthin. Zur Trilogie erweitert (2015 Teil 2, 2017 Teil 3) begeisterten die Filme inzwischen über 21 Millionen Zuschauer. Warum also Klassentussi Chantal „Chanti“ Ackermann aus der asozialen 10b der Goethe-Gesamtschule nicht ein weiteres Mal zur Boss Bitch avancieren lassen? Wir haben uns am Samstag den neuen Film „Chantal im Märchenland“ angesehen, als Jella Haase und weitere Darsteller ihn im Cineplex präsentiert haben.
Jella Haase brilliert darin wieder als Chantal, ihr ist die Rolle absolut auf den Leib geschrieben. Im Jahr 2022 erhielt die Schauspielerin den Deutschen Filmpreis für die beste weibliche Nebenrolle im Biopic „Lieber Thomas“. Zusammen mit Filmpartner Max von der Groeben spielte Jella Haase neben „Fack ju Göhte“ auch in dem sehr intensiven Thriller „Kidnapping Stella“ (2019).
Sicher war der größte Kontrast zu ihrem heutigen filmischen Wirken, als sie in „Kriegerin“ (2011) von Regisseur David Wnendt die 15jährige Svenja verkörperte, die komplett in die Neonazi-Szene abdriftet. Wir unterhielten uns über diesen Film mit David Wnendt, als wir letztes Jahr im Cineplex Münster die Vorpremiere seines Films „Sonne und Beton“ (Felix Lobrecht) medial begleiteten.
Bei „Chantal im Märchenland“ ist auch die Besetzung des Charakters Aladin hervorzuheben, gespielt von Mido Kotaini, der mit nur 14 Jahren vor dem Bürgerkrieg in seiner Heimat Syrien ganz allein nach Deutschland floh. Trotz fließendem Deutsch (was er sich zum großen Teil selbst beibrachte) und Fachabitur hat er bis heute keinen gesicherten Aufenthaltsstatus bei uns in Deutschland – und auch keine Waschmaschine, wie er lachend hinzufügt.
Aber wie schafft es die ewige Influencerin eigentlich ins Märchenland?
So ist es doch ein banaler Spiegel, der Chantal und ihre BFF Zeynep (gespielt von Gizem Emre) beim Content kreieren („Lass mal was drehen vor dem Scheißding“) ins Land der Drachen und Einhörner befördert. Das Märchenland ist ein visueller Overkill, dessen Set selbst ein Harald Glööckler nicht hätte bunter gestalten können.
Zum einen ist es diese kitschige Kulisse, zum anderen diese weibliche Parodie ihrer selbst, die den Kinosaal in dieser Vehemenz zunächst erschlägt. Als wäre man selbst gerade in dieser Märchenwelt erwacht, braucht es einem Moment, bis man sich in dem bunten Treiben – angesiedelt zwischen Grimm und Tausendundeiner Nacht – wieder zurechtfindet.
Spätestens wenn Aladin (Mido Kotaini) nach 90 Minuten mit seinem Sticky Finger „Chantis“ Akku zum Glühen bringt („Dieser Fick war Wahnsinn“), ist zumindest ein Höhepunkt erreicht: Es kann endlich wieder Content kreiert werden! Im Märchenland ist ein Smartphone natürlich safe der heißeste Scheiß und da ist es fast Nebensache, ob Aladin aktuell Girlfriend oder Fuckgirl bevorzugt. Immerhin kann sein Teppich fliegen und gepellte Kartoffeln schmecken nun mal besser. Check!
Rasant wie wendungsreich sind auch die sehr kurzen Auftritte von deutschen Schauspielgrößen wie Jasmin Tabatabai, Frederick Lau und Jannik Schümann. Nora Tschirner als furchteinflößende Hexe sorgt zugleich für den brutalsten Moment des Films (wir sprechen von FSK 12).
Chantal macht auf ihrer Reise durch die Märchenwelt schnell klar, dass für sie noch nie Konventionen galten. Female Empowerment? Check two! So bezwingt Chantal doch easy einen wasserspeienden (!) Drachen zu den Klängen von Britney Spears‘ Song „Stronger“. Was für ein Ritt. Das dachte sich übrigens auch Prinz Bosco (Max von der Groeben), der sich mit seinem Stallburschen (Ben Felipe) vergnügte. Für „Chanti“ kein Problem, denn „das muss dieses LGBTQDHL-Ding sein“.
„Ich liebe einen Mann“, sagt der Prinz erhobenen Hauptes. Sein Haupt taugt zwar nicht für ein Selfie, aber die der Einhörner, was Content Creator*in („Fuck, die gendert“) Chantal unbedingt noch für die irdische Welt capturen muss. Es sind diese Szenen, die an „Herr der Ringe“ und auch She-Ra erinnerten, die bestens unterhalten, neben dem farbenfrohen Fairytale. Aber was ist dieser visuelle Overkill jetzt eigentlich genau? Tale oder Tutorial? Auf jeden Fall ein bleibender Eindruck. Der (lange) Abspann ist quasi ein kurzes Making-of des Films, mit allen möglichen Drehpannen, der fast für mehr Lacher sorgte als der Film selbst.
Fragerunde und Botschaften
Das Publikum im Saal des Cineplex Münster begrüßte die vier anwesenden Hauptdarsteller Jella Haase, Gizem Emre, Max von der Groeben, Mido Kotaini und Regisseur Bora Dagtekin mit einem großen Applaus. Wie auch im letzten Jahr bei der Premiere von „Sonne und Beton“ moderierte Torsten Koch (Geschäftsführer Constantin Film) das Gespräch auf der Bühne und bedankte sich zunächst herzlich bei Cineplex-Betreiber Ansgar Esch.
In der kurzen Fragerunde (es herrschte leider Zeitdruck) betonte Jella Haase, dass sie sich zunächst nicht sicher war, ob sie sich mit dem Film „einen Gefallen tue“. Die Rolle der Chantal „bleibt halt irgendwann an dir haften“. Max von der Groeben dachte mit seiner Frage „Wer ist denn in der Fahrradstadt Münster alles mit dem Fahrrad zum Kino gekommen?“ auf der sicheren Seite zu sein und war verwundert, dass in dem großen Saal nur ein paar wenige Hände hochgingen. Aber so ist das eben auch ein wenig wie im Märchen: Nicht jeder Wunsch ist klug.
Die Botschaft, dass Follower, Kohle und Erfolg letztendlich Freunde und Freizeit nicht ersetzen können, hat uns „Chanti“ mit auf den Weg gegeben. Und auch das: Der Prinz ist schwul. Lang lebe der Prinz.
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