An dieser Stelle treten in einer zweiten Staffel unserer Empowerment-Serie monatlich starke Persönlichkeiten mit körperlichen Behinderungen auf die Bühne. Sie verfolgen ihre Herzensangelegenheiten, überwinden Barrieren mit Mut und Konsequenz – und manchmal mit pfiffigen Alltagshilfen, deren Erfindung puren Segen bedeutet.
Fotografin Ingrid Hagenhenrich hat einen unvergleichlich liebevollen Blick auf die Menschen vor ihrer Kamera. Sie nimmt sich Zeit, jede Persönlichkeit auf eigene Art zu portraitieren. Iris Brandewiede gibt ihren Worten Raum. In der ersten Folge der Herzensangelegenheiten treffen wir den 25-jährigen Lukas Füllenkemper aus Münster.
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Im Pfarrbüro in St. Nikolaus Münster arbeite ich seit November letzten Jahres, bin also jetzt ein Jahr dabei. Das ist eine wunderbare Stelle mit wunderbaren Kolleginnen und Kollegen im Umfeld. Die Arbeit mit dem Seelsorgeteam ist total angenehm, es ist eine gute Atmosphäre. Wenn viel zu tun ist, unterstützen wir uns gegenseitig. Jeder wird nach seinen Fähigkeiten eingesetzt und wir schauen immer, dass wir miteinander alle Aufgaben gut hinbekommen.
Aufgrund meiner Behinderung bin ich komplett auf den PC angewiesen. Es ist mir nicht möglich, etwas mit der Hand zu notieren. Darauf hat das Team wunderbar reagiert. Wir haben nach und nach alle Arbeitsprozesse digitalisiert. Da gab es eine große Bereitschaft vom Team, sich fortzubilden, um unsere Arbeitsprozesse digitaler zu gestalten, damit einfach alle die gleichen Voraussetzungen haben. Das hat mich sehr gefreut. Wir arbeiten inzwischen zu 80% digital. Die anderen 20% schaffen wir auch noch! Und wie man auf dem Bild sehen kann: Die Arbeit macht mir jeden Tag Freude!
Wir haben in unserem Pfarrbüro viel Publikumsverkehr. Der erste Schreck für neue Leute: „Ein Mann im Pfarrbüro!“ Der nächste Schreck kommt, wenn ich versuche, mich mit Hilfe meiner Vierpunktstützen vom Arbeitsplatz zu erheben. Da müssen die meisten Leute erstmal gucken – aber das ist ja auch gut so!
Mein Ausbildungsberuf ist Kaufmann im Büromanagement. Meine Stellenbezeichnung nennt sich tatsächlich noch Pfarrsekretär. Ich habe eine Teilzeitstelle. Knapp zwanzig Stunden sind schneller um, als man denkt. Die Woche verfliegt immer. Oft werde ich belächelt von Menschen, die selbst mit der Tätigkeit im Pfarrbüro noch nicht in Berührung gekommen sind. „Da hast du ja nichts zu tun, sitzt am PC, führst den Kalender vom Pfarrer, kochst Kaffee und schmierst Brötchen…“ Das ist nicht der Fall!
Ich mache Öffentlichkeitsarbeit, gestalte Homepage, Facebookseite und die Pfarrnachrichten. Da kommt es darauf an, dass alles passt, dass es ansprechend aussieht, und dass wir uns selbst als Pfarrei gut ins Licht rücken, damit die Leute gerne zu uns kommen und die Veranstaltungen wahrnehmen. Da ist Kaffeekochen ganz hinten an.
Wir wechseln uns in einem Team von vier Mitarbeitenden ab, um in der großen Pfarrei die Bürozeiten an mehreren Standorten zu besetzen. Viele denken, „Eine Stelle im Pfarrbüro – da muss man kaum was wissen“ – das ist eben nicht der Fall. Man braucht ziemlich viel Background und muss sich vieles aneignen, was zum Arbeitsfeld gehört. Dieses Arbeitsfeld ist grenzenlos lang – vom Dienstplan der Kommunionshelfer bis hin zur Öffentlichkeitsarbeit, und manchmal habe ich abends ein wundes Ohr vom Telefonieren.
Ob wir jetzt Behinderung sagen, Einschränkung oder Handicap, das ist mir ganz egal. Ich kenne das von Geburt an und habe damit kein Problem. Ich bin total froh, dass sich meine Kirchengemeinde drauf eingelassen hat, mich in einem regulären Job auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt zu beschäftigen und dass wir hier seit einem Jahr miteinander arbeiten.
Natürlich gab und gibt es eine Kooperation mit der Agentur für Arbeit, damit das Büro entsprechend umgerüstet wird: Eine elektrische Tür, damit ich meinen Arbeitsplatz selbständig erreichen kann, und nicht immer jemand da sein muss, um mir die Tür zu öffnen. Elektrische Rollläden. Meine Brotdose holen mir meinen Kolleginnen und Kollegen mittags aus dem Aufenthaltsraum. Dorthin führen nämlich fünf Stufen, und das ist alleine für mich schwierig. Das ist eben ein Miteinander mit einem familiären Klima, auch wenn wir über vier Ortschaften verteilt sind. Das finde ich bei all den negativen Schlagzeilen, die seit Monaten über die katholische Kirche durch die Presse gehen, wirklich erwähnenswert: Das sind Menschen, die nicht nur predigen, sondern handeln, indem sie mit mir gemeinsam arbeiten!
Mein E-Rollstuhl bietet mir große Möglichkeiten der Mobilität, zum Beispiel, selbständig den Bus zu benutzen. Für kleine Wege benutze ich die Vierpunktstützen, wenn ich etwa zum Kopierer laufe. Ich setze mich in einen Arbeitsstuhl um, damit ich auch mal eine andere Körperhaltung habe. Inzwischen habe ich auch einen Rollator am Arbeitsplatz, mit dem ich mal Bücher oder große Gegenstände transportieren kann.
Wenn ich nicht im Pfarrbüro arbeite, mache ich gerne Musik. Ich singe im Kirchenchor, auch in unserer Pfarrei. Seit anderthalb Jahren bin ich jetzt dabei. Wir singen alles Mögliche, mit einem geistlichen Schwerpunkt. Wir singen moderne Sachen wie Gospels oder auch klassisches wie Messen für Orgel. Es ist von allem etwas dabei. Meistens singen wir im Gottesdienst in unserer Pfarrei, zu Ostern, Weihnachten, Pfingsten, den hohen Feiertagen, manchmal auch zwischendurch. Wir machen gemeinsam Ausflüge, zum Beispiel einen Maiausflug.
Manchmal proben wir auch am Wochenende. Im Oktober haben wir unser Konzert vorbereitet für den November 2024. Da wird der Chor 100 Jahre alt. Da wird ein Oratorium uraufgeführt, das für uns zum Jubiläum komponiert wurde, von einem Komponisten und Organisten, der viel in unserer Pfarrei arbeitet und Konzerte gibt. Er hat uns jetzt das Oratorium gewidmet. Da freuen wir uns sehr drauf. Ich bin im Kirchenchor mit Abstand das jüngste Mitglied, und das stört mich überhaupt nicht. Uns verbindet die Lust am Singen und am gemeinsamen Erzeugen von schönen Klängen. Und Spaß haben wir auch dabei.
Im Winter ist es oft kalt in der Kirche, da müssen wir uns gut warmsingen. Für mich ist es anstrengend, ich muss aus dem Rollstuhl raus und eine Wendeltreppe rauf! Wenn ich oben bin, bin ich schweißgebadet, aber ich weiß, was ich getan habe! Ich liebe Orgelmusik! Ich setze mich gerne ganz nahe an die Orgel in St. Nikolaus. Ich freue mich schon auf die Christmette – am schönsten ist es, wenn es im Bauch kribbelt und der Boden vibriert.
Wir lachen bei der Arbeit viel zusammen, aber es gibt auch viel Trauer, zum Beispiel, wenn der Bestatter zum zehnten Mal am Tag anruft. Das gehört dazu, es kommen auch wieder bessere Zeiten. Ich habe einen Glauben, der mir die Hoffnung gibt, dass es weiter geht. Und das gibt Zuversicht. Ohne diesen Glauben könnte ich nicht leben. Da wäre ich längst verzweifelt. An meiner körperlichen Situation – das kommt auch immer mal wieder vor – oder wenn wir die Nachrichten anschalten, bei dem Hass und den Kriegen, die in der Welt sind. Und ich habe eben die große Überzeugung, dass da einer ist, der mit uns geht und bei uns ist, auch wenn wir ihn nicht sehen.
Mehrfach haben Arbeitgeber mir widergespielt, dass sie mich nur eingeladen haben, weil eben Schwerbehinderte berücksichtigt werden müssen. Sie haben mich angehört, aber zugleich signalisiert, dass die Chancen schlecht seien, bei einem Bewerberfeld, das im Vergleich viel besser ist als ich. Einige haben mir freundlich am Ende des Gespräches gesagt: „Wissen Sie was – Sie brauchen nicht zu warten. Eigentlich können wir das nicht mit Ihnen. Das kriegen wir nicht hin.“ Man sieht mir die Behinderung ja an, wenn ich in den Raum fahre, und ich sehe auf deren Stirn, was da läuft: „Ach nein, das machen wir lieber nicht.“ Es gab viele Gespräche, aber auch ganz viele Absagen. Natürlich macht das auch was mit der Psyche. Das war sehr enttäuschend.
Im Herbst kam dann die Ausschreibung von St. Nikolaus. Da war sofort klar, dass ich das versuchen möchte. Nach einigen Praktika im Büro wusste ich, worauf ich mich einlasse. Und es hat geklappt. Ich finde, die Unternehmen müssen sich mehr trauen, und sich nicht auf die Ausgleichsabgabe * zurückziehen. Es gibt immer sowas wie eine Probezeit, da kann man ja noch steuern, wenn es nicht so passt. Sie müssen es einfach versuchen und mehr Menschen mit Behinderung auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt beschäftigen!
Alle Teile dieser Reihe gibt es hier: https://www.allesmuenster.de/tag/Herzensangelegenheiten
Lukas‘ Wirkungsstätte ist die Pfarrgemeinde St. Nikolas Münster: https://st-nikolaus-muenster.de/ *) Ausgleichsabgabe: Betriebe mit 20 und mehr Beschäftigten sind per Gesetz verpflichtet, 5% ihrer Arbeitsplätze für Menschen mit Schwerbehinderung vorzusehen. Durch das UN-Übereinkommen für Menschenrechte wurde das Recht behinderter Menschen auf Teilhabe am Arbeitsleben 2009 erneut ratifiziert. Sieht sich der Betrieb nicht in der Lage, passende Arbeitsplätze zu bieten oder möchte sich aus anderen Gründen dieser Pflicht entziehen, wird ein festgelegter Betrag erhoben, der durch das örtliche Integrationsamt zur Unterstützung der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsleben eingesetzt werden muss. Mehr dazu findet ihr hier: https://de.m.wikipedia.org/wiki/Ausgleichsabgabe Inkluencer: Raul Krauthausen (https://raul.de/) DER AKTIVIST - kämpft für Barrierefreiheit und Wertschätzung von Diversität „Die Neue Norm“ (https://dieneuenorm.de/podcast/) ein Trio kluger Köpfe reflektiert aktuelles Gelingen und Scheitern von Inklusion Homepage von Ingrid Hagenhenrich: https://ingrid-hagenhenrich.com/ Instagram Account von Iris Brandewiede: @irisbrandewie.de
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