Am Horizont geht malerisch die Sonne über Nienberges dunstigen Wiesen auf, doch weder Marc Gerseker noch das Helferteam um Hugo Hölken haben Augen für das romantische Naturschauspiel, sie interessieren sich nur für das Bild auf einem kleinen Monitor, auf dem sich rote und gelbe Flächen abwechseln. Gemeinsam sind sie auf der Suche nach Hasen oder Rehkitzen, die im hohen Gras Schutz suchen, das Bild auf dem Monitor wird von einer Wärmebildkamera übertragen, die unter Gersekers Drohne hängt. Die elektronische „Jagd“ dient dem Schutz der Wildtiere, die sonst Gefahr laufen, von der Mähmaschine getötet zu werden.
Seit rund zweieinhalb Jahren engagiert sich der 48-Jährige ehrenamtlich für die Kitzrettung, steht von Mitte April bis Mitte Juni praktisch täglich zwischen drei und vier Uhr auf, um sein Hightech-Fluggerät über Wiesen und Felder hin- und herfliegen zu lassen. Ziel der Aktion ist es Hasen, Eier von Fasanen oder Rehkitze zu entdecken, bevor sie Opfer der Mähmaschinen werden. „Der Landwirt ist dazu verpflichtet, die Flächen abzusuchen, bevor die Mahd beginnt“, erklärt Gerseker. Klassischerweise wird diese Aufgabe von Hunden oder Menschenketten erledigt, leider haben beide Methoden ihre Schwachstellen. Zum Schutz vor Feinden wie zum Beispiel dem Fuchs, haben junge Rehkitze fast keinen Eigengeruch, so kann sie selbst die empfindliche Nase des Raubtiers nicht wittern. Leider trifft das auch auf die Hundenase zu und ein Auffinden ist selbst für geübte Jagdhunde eher vom Zufall abhängig. Wenn Menschen nebeneinander durch die Wiese streifen, bleiben die eng an den Boden geduckten Rehkitze ebenfalls oft unentdeckt, ebenso die Gelege von Vögeln.
Anders als Hasen nehmen Kitze kein Reißaus, wenn sie Gefahren wittern, sie ducken sich stattdessen flach an den Boden, für die Mähmaschinen ist dies allerdings nicht flach genug. „Zur ersten Mahd nimmt kein Landwirt sein Kind mit“, berichtet Gerseker leise, zu grausig sei oftmals das, was hinter der Mähmaschine übrigbleibt. Der kaufmännische Angestellte ist schon seit längerer Zeit Drohnenpilot, macht nebenberuflich Luftaufnahmen von Gebäuden, „irgendwann habe ich mich gefragt, ob ich die Drohnentechnik auch anders einsetzen kann, für soziale Zwecke“, so kam er zur Kitzrettung. Die Landwirte und Jagdpächter freuen sich über das ehrenamtliche Engagement des Lieneners und seiner Kollegen, von denen es rund um die Stadt am Teutoburger Wald mehrere Teams gibt, „da ist ein echter Hotspot.“
Die Befliegung ist nur in den frühen Morgenstunden möglich, wenn der Boden noch kühl ist und die Wärme der Tiere sich deutlich abhebt, „wenn die Sonne höher steht, kann jeder Maulwurfshügel einen Wärmepunkt erzeugen“, erklärt Gerseker. Summend zieht die Drohne eine Bahn nach der anderen, gelegentlich kommt ein Gebäude ins Bild, „Das Dach dort ist zumindest gut isoliert“, spaßt er in die Runde der Grundbesitzer, Jagdpächter und Helfer, ein kostenloser Nebeneffekt gewissermaßen. Plötzlich wird der Drohnenpilot ruhig, auf seinem Monitor ist deutlich ein heller Punkt zu sehen. Seine Drohne weist am Himmel den Weg wie der Stern von Bethlehem den heiligen drei Königen, in diesem Fall in der Person von Hugo Hölker und seinen beiden Helfern. Über Funk gibt Marc Gerseker Anweisungen, bis das Dreigestirn den hellen Punkt fast erreicht hat. Dieser sucht plötzlich im Zick-Zack-Kurs das Weite, es war ein Hase. „Hasen haben zwar einen Fluchtinstinkt, wenn aber die großen Mähmaschinen kommen, die manchmal eine Spannweite von neun Metern und eine beeindruckende Geschwindigkeit haben, rennt der Hase nicht selten direkt in sein Unglück“, freut sich der Drohnenpilot auch über diesen kleinen Erfolg.
Rehkitze werden entweder vorsichtig aus der Wiese getragen und in der Nähe am Rand abgelegt, bis die Ricke kommt, oder es wird ein auffälliger Korb über das Tier gestülpt, sodass der Landwirt um das Kitz herummähen kann. „Bislang wurden alle Rehkitze, die wir aus den Flächen getragen haben, nach kurzer Zeit von ihren Müttern wiedergefunden und in Sicherheit gebracht“, berichtet Gerseker. In Nienberge Häger gab es an diesem Morgen kein Rehkitz, das gerettet werden musste, auch Fasanen-Eier, die ansonsten in den Brutkasten gewandert wären, gab es keine. „Die Fläche ist frei“, beruhigt Gerseker die kleine Gruppe um ihn herum, die Mahd kann beginnen. „Ich habe nicht den Anspruch, bei jedem Einsatz ein Rehkitz zu entdecken. Mir geht es darum, den Flächenbesitzern Sicherheit zu geben“, betont der Lienener, während er seine 8.000 Euro teure Drohne behutsam im Kofferraum verstaut. Allein die Wärmebildkamera kostet rund 4.500 Euro, notwendige Modifizierungen an dem Fluggerät hat Marc Gerseker selber vorgenommen. Im vergangenen Jahr haben er und seine Kollegen der neun anderen Kitzrettungsteams aus dem Raum Lienen etwa 100 Rehkitze vor dem Tod durch die Mähmaschine bewahrt.
Sein Engagement ist ehrenamtlich, das geländegängige Auto wurde ihm von einem Autohändler gesponsert und laufende Kosten wie Benzin oder Ersatzakkus für die Drohne, die im Jahr stolze 1.200 Euro kosten, werden gerade so über Spenden getragen, die allerdings aus rechtlichen Gründen nicht direkt an ihn gezahlt werden können. Als Gersekers Auftrag erfolgreich erledigt ist, fährt er zufrieden wieder nach Hause, der Arbeitstag kann beginnen.
Infos zu Marc Gerseker und seiner Tätigkeit als Kitzretter gibt es unter "Kitzrettung Tecklenburger Land"
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