Üblicherweise serviert die Hausfrau hier echte Alltagsabenteuer aus erster Hand, Hausfrauenkost frisch vom Tisch, sozusagen. Die heutigen siebenhundert Worte bilden eine Ausnahme von der Regel. Die Autorin persönlich bürgt für ihrer Wahrheitsgehalt. Der Bericht stammt von einer guten Bekannten, die selbstverständlich Quellenschutz genießt. Auch Hobby-Journalistinnen haben ethische Standards.
Was zuvor geschah:
In der kleinen Welt meiner Bekannten herrschte seit fast einem Jahr eine fiese Epidemie, die sich weltweit verbreitete und bald alle Lebensbereiche stark beeinträchtigte. Die Pandemie wurde zum vorherrschenden Thema im Privatleben, im Beruf, in den Medien. Sie nahm alles, was die Lebensqualität befeuert. Zuerst nahm sie den Atem, dann die Omabesuche und den Erholungsurlaub. Später nahm sie die Kunst, den Restaurantbesuch und das Shoppen, sogar den Besuch von Kindergarten, Schule und Uni. Am Ende beendete sie auch die meisten beruflichen Kontakte. Durchhalten war die Parole.
Das ging anfangs ganz gut, bei meiner Bekannten. Das Jahr gab sich freundlich, ein früher Frühling wurde von einem langen Sommer abgelöst. Große Wellen wurden klein, Erfolge durften gefeiert werden. Die Welt meiner Bekannten atmete durch.
Pünktlich zur Verschlechterung der Großwetterlage im Herbst rollte eine neue Welle an. Gewandte Politiker nahmen Worte in den Mund, die beinahe so ähnlich klangen wie Arschbacken! Es hieß also erneut, die Zähne zusammenzubeißen.
Meine Bekannte lebt in einer Stadt, die diesen Parolen alle Ehre machte, die eigene Familie eingeschlossen. Nach einem Vierteljahr stoischen Zusammenkneifens gewisser Körperteile reiste der Oberbürgermeister dieser besonders lebenswerten Stadt von einem Interview überregionaler Printmedien zur nächsten Talkshow.
Der Familie meiner Bekannten aber ging es am Ende des langen Winters wie vielen: Nicht gut. Gar nicht gut. Eine unverhoffte Woche Winterwunderland brachte die Stimmung noch einmal hoch, dann passierte wieder nix. Aber auch gar nix. Lange, dunkle Nächte wurden abgelöst von Tagen mit westfälischer Wolkendecke und durch Mark und Bein gehender feuchter Kälte. Depressive Verstimmungen erwischten alle Mitglieder der sonst so fröhlichen Hausgemeinschaft.
Dann kam sie, die rettende Idee!
Wem sie kommt, ist nicht mehr zu rekonstruieren. Beim ersten Sonnenstrahl im letzten Wintermonat wird die Familie urplötzlich kollektiv rege. Binnen eines Nachmittags ist die winterfeste Terrasse frühlingshaft umgeräumt, eingemottete Grillutensilien sind zutage gefördert, Gemüse eingelegt und Würstchen eingekauft. Es ist ein Fest. Bei Lichterkettenglanz dick eingemummelt, genießt die Familie den Freiluft-Schmaus. Ein kleines bisschen wie früher fühle es sich an, sagte eines der Kinder seufzend beim Biss in den Veggie-Griller.
Wer auf die noch verwegenere Idee kommt, ist ebenfalls nicht zu rekonstruieren. Kurz vorm Geburtstag meiner Bekannten fahndet das ganze Haus nach der Feuerschale, die alle irgendwo zuletzt gesehen haben wollen, wo sie sich dann doch nicht befindet.
Nach tagelangem Durchkämmen aller Etagen des Haushalts und diversen Verdächtigungen befreundeter Familien, die alle mit dem Verschwinden des Utensils nichts zu tun haben wollen, gibt es bei der Suche nach etwas ganz anderem den Zufallsfund auf dem Spitzboden. Wie die eiserne Schüssel den Weg durch die enge Dachluke gefunden hat, ist wiederum nicht rekonstruierbar. Sie wird in einer halsbrecherischen Gemeinschaftsaktion an ihren Bestimmungsort zurück befördert – in den Garten.
Nach Monaten konzertierten Stubenhockens fühlt die Lagerfeuerromantik bei beißendem Qualm, wärmenden Getränken und heißer Suppe sich an wie die große weite Welt. Bis in die Nacht hinein essen und trinken die Glücklichen, erzählen Geschichten und schauen in die flackernde Glut.
Um Mitternacht heißt es zuerst Happy Birthday, dann gute Nacht.
Gestärkt vom abenteuerlichen Wochenende kehrt meine Bekannte Montag Nachmittag von der Arbeit zurück. Im Briefkasten findet sie einen Brief, adressiert „an die Nachbarn im Erdgeschoss“. Das wären dann wohl wir, denkt die Bekannte, und öffnet die Post im Gehen.
In der Küche muss sie sich erst einmal setzen.
„Des einen Freud‘ ist des andern Leid!“ prangt als Überschrift neben dem Briefkopf eines Paares aus dem Nachbarhaus. Es datiert vom gestrigen Geburtstag. Der Eröffnung „Liebe Nachbarn,“ folgen zweihundertachtzig computergeschriebene und tintenstrahlgedruckte Worte. Der erste Abschnitt erörtert den entspanntestmöglichen Kommunikationsweg. Die weiteren widmen sich dem Oberthema nachbarschaftlichen Miteinanders. Besondere Berücksichtigung finden die Unterpunkte Grillanzünden, leckere versus nicht leckere Gerüche, Lüftungsmanagement, Emissionen, Inversionswetterlage sowie der Klimaschutz.
Das Schreiben endet mit der Bitte um Verständnis, Diskussion in der Familie und Rückmeldung. Freundliche Grüße mit handgeschriebenen Vor- und Nachnamen runden die erste persönliche Kontaktaufnahme nach achtzehn Jahren ab.
Liebe Nachbarn, denkt meine Bekannte, sind in diesen Zeiten wirklich wichtiger denn je.
Iris Brandewiede veröffentlicht ihre Geschichten-Bände im agenda-Verlag Münster. Mehr dazu auf https://agenda.de und auf der Seite der Autorin https://irisbrandewie.de.
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