Liebe Coronials! Unsere Kolumnen-Autorin von „Hausfrau & Mutter, berufstätig“ schreibt einen „Offenen Brief an alle zwischen 13 und 23“

Analoger Live-Chat unter Corona-Bedingungen. (Foto: Iris Brandewiede)
Analoger Live-Chat unter Corona-Bedingungen. (Foto: Iris Brandewiede)

Liebe Coronials!

Es ist guter Brauch, Generationen per Sammelbegriff zu etikettieren. Die Älteren, an denen die Jahrzehnte fix vorüberziehen, würden sonst den Überblick verlieren, sie brauchen ‚Generation Golf‘ und ‚Generation Praktikum‘ als Eselsbrücke. Die Bezeichnung ‚Millennials‘ ergab sich von allein. Für euch, die jetzt Dreizehn- bis Dreiundzwanzigjährigen, liegt der Titel leider auf der Hand. Ihr seid die, die an einem Freitag, den Dreizehnten aus ihrem bisherigen Leben gerissen wurden. Mit heftigen Folgen.

Die Wissenschaft hat schon vor Jahrzehnten festgestellt: In dieser Lebensphase habt ihr die „Entwicklungsaufgabe“, euch vom Altbekannten zu befreien. Ihr müsst euren eigenen Weg finden. Ihr braucht eure Gleichaltrigen mehr und die Älteren weniger. Deren Grenzen zu überschreiten und Regeln gelegentlich zu brechen wäre sogar in Ordnung. Eigentlich.

Von heute auf morgen habt ihr ohne Zwischenstadium wie Erwachsene reagiert:
Schule, Ausbildung, Uni – ihr bekommt eure Päckchen und arbeitet sie brav oder verzweifelt ab. Das bezahlt ihr mit fiesen Nackenschmerzen.
Zu eurem dreizehnten Geburtstag haben eure Freundinnen den Kuchen mit Kerze auf Facetime ins Bild gehalten. Auf euren sechzehnten Geburtstag habt ihr dezent ein Bierchen mit Mama und Papa getrunken.
Bis ins hohe Alter werdet ihr euch daran erinnern, wo ihr euren achtzehnten Geburtstag nicht gefeiert habt. Die passend geplante Prüfung für den Führerschein, mühsam erarbeitet mit Nebenjobs, mit freundlicher Unterstützung von Eltern und Paten, konntet ihr gleich mit absagen.
Eure Mottowoche und die Abschlussfeiern sind ins Wasser gefallen. Die Prüfungen natürlich nicht.
Eure Erstsemester-Veranstaltung habt ihr per Videochat gehabt, euer wildes Studileben komplett in die eigenen vier Wände verlegt.

Ihr verzichtet viermal in der Woche auf euer Mannschaftstraining.
Ihr leistet siebenmal in der Woche euren Workout, euer Fitness-, Ballett- und Karatetraining auf Mamas alter Yogamatte oder dem Teppich.
Ihr verzichtet aufs Shoppen, aufs Essen gehen, aufs Clubben.
Ihr backt Plätzchen, packt Päckchen und telefoniert mehrmals die Woche mit Oma und Opa, um ihnen zu erzählen, was ihr nicht erlebt habt.
Ihr tragt öffentlich blöde Dinger im Gesicht, die alles andere als fancy sind.

Ihr chattet und zockt mit euren Freunden online und müsst euch dann von euren Eltern anhören, man müsse dringend mal über eure „Medienzeiten“ sprechen. Sie sehen eure Corona-Depression und glauben, euch helfe etwas frische Luft. Sie planen nette Waldspaziergänge und wenn ihr dankend darauf verzichtet, schlagen sie beleidigt vor, ihr könntet es doch wenigstens mal „mit Joggen versuchen“.

Da ihr es hinter meiner Mund-Nasen-Abdeckung nicht erkennen könnt, sage ich es euch:
Ich staune mit offenem Mund über eure Solidarität, eure Leistungsbereitschaft und eure Flexibilität.
Das abgesagte Praktikum braucht ihr nicht, um jedem Arbeitgeber hervorragende Soft Skills unter Beweis zu stellen. Ich bewundere euren Mut und eure offene Wut. Mich berührt euer schlechtes Gewissen, wenn ihr die besten Freunde doch spontan umarmt habt.

Ein Thema muss ich hier komplett auslassen. Die Wissenschaft hat fest gestellt, dass es zentraler Bestandteil eurer Lebensphase ist und am Ende sogar den Fortbestand unserer Spezies sichert. Ich weiß, dass jedes Wort von mir bereits „too much information“ darstellt. Tatsächlich habe ich in keiner der bisherigen Kommentare und Sondersendungen über die Folgen der „Krise“ auch nur ein einziges Wort darüber gehört. Dabei ist doch völlig klar: Die meisten von euch sind an… äh… dem Thema… interessiert. Was ist mit den lockeren Begegnungen, mit Dates, dem Tanzen gehen und Blicke schweifen lassen? Nix ist.

Eure Ferienlager und Gruppenreisen: abgesagt. Von den erlösenden „Lockerungen“, die Familien schon länger erlaubt, draußen zusammen zu chillen, wart ihr mit euren Freunden erstmal ausgeschlossen: Ihr lebt ja in mehr als zwei Haushalten…

Distance Date (Foto: Iris Brandewiede)
Distance Date (Foto: Iris Brandewiede)

Wäre ich die gute Fee oder zumindest Hermine Granger, ich würde euch mit einem Schutzzauber versehen, der jede Gefahr von euch abschirmte. Ihr wäret zugleich dem Blick besorgter Erwachsene entzogen. Keine Beschränkung gälte mehr für euch, ihr dürftet euch endlich wieder wie normale Coronials verhalten. So wie es ist, kann ich euch nur sagen: Haltet durch – und nehmt eure Eltern nicht so ernst. Die können ihre Warnungen vor viereckigen Augen längst selbst nicht mehr hören.

Meine Oma wäre jetzt einhundertdrei Jahre alt, könnte also mindestens eure Uroma sein. Sie wusste aus Erfahrung: „In schlechten Zeiten zeigt sich das Beste und das Schlechteste in den Menschen!“
Die Oma wäre stolz auf euch: IHR SEID DIE BESTEN!

Eure zweifache Coronial-Mutter & Hausfrau, berufstätig

Unsere Gastautorin Iris Brandewiede hat unter dem Titel "Hausfrau & Mutter, berufstätig" ein Buch mit 13 toften Alltagsgeschichten beim Agenda Verlag Münster veröffentlicht (siehe auf agenda.de) und schreibt auch auf ihrer eigenen Homepage https://irisbrandewie.de/.

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