Mit dem Stichtag 19. März 2022 sind fast alle bundesweiten Schutzmaßnahmen gegen das SARS-CoV2-Virus ausgelaufen. Die bis dahin gültigen Einschränkungen des gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens wurden in weiten Teilen zurückgenommen. Stattdessen soll das Infektionsgeschehens durch eine „Hotspot-Politik“ geregelt werden. Das heißt, die Bundesländer sollen in Corona-Hotspots mit hohen Inzidenzen geeignete Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens ergreifen.
Der Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe, Dr. Hans-Albert Gehle, und der Ärztliche Direktor des UKM, Univ.-Prof. Dr. med. Alex W. Friedrich, sehen die Rücknahme der bundesweiten Maßnahmen zu diesem frühen Zeitpunkt äußerst kritisch. Während ihrer heutigen Pressekonferenz zu den aktuellen Entwicklungen richteten sie vor dem Hintergrund noch nie dagewesen hoher Infektionszahlen eine Warnung an die Verantwortlichen der Politik.
Die Situation in den Krankenhäusern zeige zudem eine völlig andere Wirklichkeit als sie die Lockerungen vermuten ließen. Verursacht durch gleichbleibend hohe Patientenzahlen, aber auch durch infizierte Klinikbeschäftigte und solche in Quarantäne, sei es fraglich, ob die gesundheitliche Gesamtversorgung der Bürger qualitativ aufrechterhalten werden könnte. „Zahlreiche elektive Eingriffe müssen derzeit warten, wichtige ambulante Termine können nicht angeboten werden“, so der Ärztliche Direktor des UKM. „Wir haben unsere Leistungen bis an eine Schmerzgrenze zurückgefahren und weisen darauf hin, dass – zusammengenommen mit dem Mangel an Pflegekräften – wir in eine Situation laufen, bei denen wir viele andere Menschen, die einer Behandlung bedürfen, zu spät sehen und nicht rechtzeitig behandeln können.“
Und Kammerpräsident Gehle ergänzt: „Sollte es bei den geplanten Lockerungen bleiben, prophezeien wir, dass wir im Sommer 2022, anders als in den beiden Sommern davor, keine Entspannung der Lage erfahren werden. Damit gibt es dann keine Atempause. Weder für die Bevölkerung, und schon gar nicht für die Beschäftigten im Gesundheitswesen.“
Hauptaussagen der heutigen Pressekonferenz
Einschätzung der Auswirkungen durch die Lockerungen
Gehle: „Die Infektionszahlen steigen seit Tagen immer weiter und erreichen europaweite Rekordhöhen; ein Ende ist nicht abzusehen. Die Pandemie ist nicht vorbei. Flächendeckende Lockerungen wären deshalb ein völlig falsches Signal, das nur scheinbare Sicherheit vermittelt. Wir können noch lange keine Entwarnung geben, die Schutzmaßnahmen müssen bestehen bleiben. Der Automatismus von Sonnenschein, dem Ende der Pandemie und gesellschaftlicher Freiheit ist ein gefährlicher Trugschluss und verleitet zu Leichtsinn im Umgang mit dem Virus.“
Friedrich: „Man muss kein Prophet sein, um zu sagen, dass die Inzidenzen steigen werden, wenn wir die Maßnahmen so weit zurückfahren. Wir sind jahreszeitlich erst im März. Am besten können wir sehen, was passieren wird, wenn wir in die Niederlande schauen: Die haben dasselbe vor drei Wochen gemacht und die Infektions- wie die Hospitalisierungszahlen steigen wieder. Da erreicht man dann irgendwann ein Niveau, in dem wir gar nicht mehr so viel testen können, wie wir müssten. In Wahrheit sind die Infektionszahlen dann noch deutlich höher, aber das wird nicht abgebildet. Erst Mitte April wird sich, bedingt durch das Frühjahr, die Verbreitungsgeschwindigkeit des Virus verlangsamen. Daher sollten wir mit einer Rücknahme der Maßnahmen noch bis zu vier Wochen warten.“
Situation in den Kliniken und Arztpraxen
Gehle: „Die steigenden Inzidenzen gefährden die Grundstruktur unseres Gesundheitswesens. Es kommt zu erheblichen Personalausfällen in Krankenhäusern und Praxen, immer weniger Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte müssen immer mehr kollegiale Ausfälle auffangen. Notwendige Therapien und OPs bleiben dabei auf der Strecke. Auch der Öffentliche Gesundheitsdienst arbeitet seit Monaten hart an seinen Grenzen des Möglichen.“
Friedrich: „Wir haben in den Kliniken immer mehr mit dem Virus infizierte Patienten. Gleichzeitig haben wir sehr viele infizierte Mitarbeitende oder solche, die als Kontaktperson in Quarantäne müssen. Es trifft also eine wachsende Zahl von mit Corona-infizierten Patienten auf eine deutlich reduzierte Mitarbeiterschaft. Das ist eine sehr gefährliche Situation, die durch die Rücknahme der Maßnahmen weiter eskalieren könnte.“
Vierte Impfung: Warum, ab wann und mit welchem Impfstoff?
Gehle: „Die Impfungen waren von Anbeginn ihres Einsatzes die beste Möglichkeit, die Ausbreitung des Corona-Virus einzudämmen. Leider sind die Impflücken in unserem Land weiterhin vorhanden.“
Friedrich: „Sinn macht eine vierte Impfung bei den über 70-Jährigen und den besonders Gefährdeten, auch beim Gesundheitspersonal. Für alle anderen glaube ich, wäre eine vierte Impfung derzeit zu früh. Ich glaube, wenn Anfang bis Mitte Mai der Reproduktions-Wert über 1,5 liegt, dann sollten wir möglichst schnell wieder impfen, um im Sommer eine Entspannung der Lage hinzubekommen. Liegt der R-Wert aber unter 1,5, dann reicht es, wenn wir erst im November impfen, möglicherweise mit einem Impfstoff, der dann an die herrschenden Varianten schon angepasst ist. Wir sollten im Blick haben, dass wir den Großteil der Bevölkerung lieber später als früher zum vierten Mal impfen, also besser erst im Herbst. Wenn wir zu früh impfen, dann kommen wir wieder nicht über den Winter und müssen nachimpfen.“
Ausblick auf den Sommer
Gehle: „Nicht nur müssen die Schutzmaßnahmen beibehalten werden, es gilt auch weiterhin dafür zu sorgen, dass die Impfquoten steigen und Impflücken geschlossen werden. In den dahingehenden Anstrengungen können wir nicht nachlassen, ansonsten gibt es nicht erst im Herbst ein böses Pandemie-Erwachen, sondern droht schon früher ein Corona-Sommer. Wir müssen uns zukünftig auch um die Langzeitfolgen der Infektionen kümmern: Long Covid und Post Covid werden als medizinische Herausforderungen verstärkt auf uns zukommen.“
Friedrich: „Bleibt die Lage auch im Sommer weiter angespannt, also mit weiter hohen Inzidenzzahlen und gleichbleibend hohen oder sogar steigenden Patientenzahlen, sehe ich die Klinikmitarbeitenden am Anschlag. Meiner Meinung nach müssten wir mit Lockerungen noch vier Wochen warten. Ein Szenario, in dem auch im Sommer viele Corona-infizierte Patienten in die Kliniken kommen, bedeutet – neben der Dauerbelastung für die ungefähr 10 Prozent der Menschen, die in Deutschland insgesamt im Gesundheitssystem arbeiten – auch, dass für Patienten mit anderen Diagnosen die ganze Zeit zu wenige Betten da sind. Damit nimmt man Schäden für andere Menschen, die auch ein Recht auf gesundheitliche Versorgung haben, dauerhaft in Kauf.“
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