Vor vielen Jahren erlebte ich, wie der Wehrdienst den Wortschatz eines Freundes tiefgreifend änderte. Der „Uffz“ habe dies, der „Stuffz“ jenes befohlen, sprach er, der „Ovaudeh“ wiederum… Ich schob die sprachliche Verwahrlosung dem Militär in die Stiefel. Inzwischen habe auch ich ein stattliches Repertoire verbaler Entgleisungen vorzuweisen. Abkürzungen achten den freien Willen nicht. Sie haken sich ins Sprachzentrum ein und zersetzen jede Klang-Ästhetik. Ein typischer kollegialer Austausch: „Läuft dein neues AOSF schon?“ – „Ja, das Kind ist ziemlich eindeutig GG, ich habe schon die KABC durchgeführt.“ – „Geht das über die BR? Dann beziehe doch die LAA ein!“
Wer sich angestrengt den Kopf kratzt, sei beruhigt. Auch Angehörige eng verwandter Professionen verstehen hier nur Bahnhof. Dafür stünde mein Kollegium wahrscheinlich bei einer Fachmesse für Landmaschinen wie der Ochs vorm Berge. Vermutlich benötigt jede Zunft ihren Fachjargon zur Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls. Apropos zusammengehörig: Die Abwehr viraler Bedrohungen schränkt unsere beruflichen Zusammenkünfte gerade extrem ein.
November 2020 – Der Arbeitsalltag läuft, der Entzug von Gemeinschaft und Gesang tut weh. Mieses Wetter zehrt an den Kräften, frühes Aufstehen nervt die Pubertierenden, ewiges Maskentragen nervt alle. Medienmenschen und Ministerin blicken permanent in ihre Glaskugeln. Sie sagen in stetem Wechsel komplette Schließung oder immerwährende Öffnung voraus. Ein scharfsinniger Schüler fasst die Situation treffend zusammen: „Belastend!“
Eine Mail vom Chef ohne das C-Wort im Betreff! Was mag sich dahinter verbergen? „Mit Hilfe des COPSOQ“, heißt es, werde laut Erlass der obersten Dienstherrin „eine Befragung zur psychosozialen Arbeitssituation von Lehrkräften durchgeführt“. Mit Hilfe des Zeigefingers ziehe ich Buchstabe für Buchstabe zusammen. Es bimmelt in meinem Langzeitgedächtnis: „Koppsock“ – das Vorhaben wurde bereits vor Wochen angekündigt. Wissenschaftler einer skandinavischen Universität erheben mit dem „Copenhagen Psycho-Social Questionnaire“ die psychosozialen Belastungen am Arbeitsplatz, lese ich. Die Beanspruchung von Lehrkräften solle im Rahmen personenbezogener Gefährdungsbeurteilung ermittelt werden. Eine spezifische Diagnostik rund um die seelische Gesundheit der Mitarbeitenden winke den teilnehmenden Institutionen. Die FFAW sei vom MSB mit der Befragung beauftragt. Das hört sich echt transparent an.
Arbeitsbelastung hin oder her – ich werde mich in den Dienst der Gefahrenbekämpfung stellen! Gleich am Wochenende kämpfe ich mich durch den digitalen Dschungel.
Am Wochenende. Wo war noch die Chef-Mail mit meinem Login!? Zwischen fünfzehn Coronamails finde ich den Buchstabensalat. Ich logge mich ein, werde von Tabelle zu Tabelle gelotst. Gewissenhaft erwäge ich den Grad meiner Anstrengung im Sinne von Zeitdruck, emotionaler Anforderungen und der Belastung meines Privatlebens. Spontan bestätige ich meiner Tätigkeit großen Abwechslungsreichtum: Grauen Alltag kennen wir höchstens aus schlechten Lehrerwitzen! Aber klar erlebe ich täglich Neues, natürlich kann ich permanent mein Fachwissen anwenden! Ich erhalte andauernd Unterstützung durch meine KollegInnen: Wir nennen das Teamarbeit. Natürlich vertrauen meine Vorgesetzten meistens meinem Urteil, und ich baue fast immer auf ihres.
Ich fühle mich ertappt – habe ich das wirklich gerade alles so angeklickt? – Ich schaue über meine Schulter. Nur das Bücherregal ist mein Zeuge.
Diffiziler ist die Frage, ob ich Einfluss auf die Menge und Art meiner Arbeit habe… Das nächste Item katapultiert mich fast aus dem Stuhl. Erhalte ich, fragt das Tool, vom Chef rechtzeitig Informationen bezüglich geplanter Veränderungen am Arbeitsplatz? – Bekäme er selbst die Informationen von seiner Vorgesetzten, denke ich ketzerisch, täte er mich sicher gern informieren… Und rufe mich zur Raison.
Jetzt bin ich im Flow. Heben und Tragen muss ich meine Klientel dank technischer Hilfsmittel nur noch selten. Die Frage nach der Geräuschbelastung treibt mir die Tränen in die Augen. Was gäbe ich für den ohrenbetäubenden Lärm meiner Schülerband! Ob ich Gefahrstoffen ausgesetzt bin, möchte ich am liebsten mit „Bei uns atmen ALLE, und zwar STÄNDIG!“ beantworten. Ich bezweifle, dass das Tool Ironie versteht und klicke auf die korrekte Auswahl. Durch Technologie werde ich wohl in naher Zukunft nicht ersetzbar sein, antworte ich selbstbewusst.
Fast fertig. Ich fühle mich etwas ausgelaugt.
Ob ich mich nach dem Arbeitstag emotional und körperlich ausgelaugt fühle, will die künstliche Intelligenz wissen. Das kapier ich nicht: Wie sonst sollte ein vernünftiger Arbeitstag enden?!
Nach knapp einer Stunde Gehirnjoggings klicke ich auf „senden“. Mein persönliches Ergebnis, streng vertraulich, erscheint in Form einer altmodischen Fieberkurve auf der Mattscheibe. Geschult durch tägliche Inzidenz-Graphiken verzeichne ich mit einem Blick zwei gefährliche Ausschläge. Der Gesamt-Trend ist positiv!
Ende Januar gibt es die COPSOQ-Gefahrenanalyse. Da fiebern wir drauf hin!
Ihr wollt wirklich wissen, was die eingangs erwähnten Abkürzungen bedeuten. Nun, hier ein Glossar der Abkürzungen für Neugierige. Falls das nicht weiterhelfen sollte, empfiehlt die Autorin ein grundständiges Studium ihres Traumberufs: AOSF = Ausbildungsordnung sonderpädagogische Förderung, GG = Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung, KABC = Kaufman Assessment Battery for Children, BR = Bezirksregierung, LAA = Lehramtsanwärterin, FFAW = Freiburger Forschungsstelle für Arbeitswissenschaften GmbH MSB = Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen
- „Traut behinderten Menschen mehr zu“ In der 11. Folge unserer Serie „Herzensangelegenheiten“ treffen wir den 29-jährigen Welat aus Münster - 10. November 2024
- „Ich hab mein Hobby zum Beruf gemacht“ In der 10. Folge unserer Serie „Herzensangelegenheiten“ treffen wir den 19-jährigen Navid aus Sendenhorst - 6. Oktober 2024
- Ein trauriges Jubiläum Gedanken zum 9.9.2024, dem 25. weltweiten FASD-Tag - 9. September 2024
Ein Kommentar