Seit Jahrzehnten deklarieren wir unsere Stadt als lebenswerteste der Welt. Das wird allmählich nicht nur langweilig, sondern auch kritisch hinterfragt. Im Sommer wählte ein großer Reiseführerverlag Münster netterweise unter den Reigen „entspannter Städte Europas“! Spontanem Strahlen folgte ratloses Kinnkratzen. Unsere Wohnstätte, hieß es erläuternd, hole in den Kategorien „Relaxen am Stadtsee“, „Lustwandeln unter Linden“ und „Eintauchen ins quirlige Studentenleben“ beste Wertungen. Den schmeichelhaften Worten folgte die unverschämte Behauptung, Münster sei die heimliche Fahrradhauptstadt Deutschlands. Wie jetzt, heimlich?! Münster ist, bitteschön, die Fahrradstadt Nummer eins im Universum, darauf gründen ganze Branchen ihre Marketingkonzepte!
Apropos Marketing: Letzte Woche ist Münster erneut in einem Ranking geklettert, welches die Herzen höher schlagen lässt: Der Berufs-Verband der digitalen Industrie führt uns auf Platz vierzehn von einundachtzig Großstädten im Ringen um den Titel der „Smart-City“! Noch Anno 2019 dümpelte unsere City im soliden Mittelfeld unter den Smarten und verbesserte sich binnen Jahresfrist um satte dreizehn Plätze. Wenn das so weiter geht, erhalten wir nächstes Jahr den Silberkranz und Platz zwei! Schon jetzt findet sich unser Großstädtchen in drei Wertungen unter den Top Ten, unter anderem im Bereich „Verwaltung“. Das Schreiben dieses Stichwortes löst eine Kaskade von Erinnerungen aus. Wir befinden uns im Sommer des Vorjahres. Eine rätselhafte Baustelle direkt vor unserer Eingangstür bringt brennende Fragen in der Hausgemeinschaft auf. Ich erkläre mich bereit, an meinem freien Vormittag Erkundungen einzuziehen.
Ich wähle die zentrale Infonummer. Einige Minuten verbringe ich in einer Warteschleife mit der synthetischen Ansage „Ihre Verbindung wird gehalten“ in fünf Sprachen. Toll, so ein internationaler Kundenbezug bei uns in der Provinz, finde ich. Die nächsten sieben Minuten verbringe ich in einer Klassikpop-Dudelschleife. Nach mehrfachem „Durchstellen“ zu nicht zuständigen Personen, die mich gleich wieder ins Dudeln „zurückstellen“, teilt mir Herr Brinkschulte freundlich mit, er sei für mein Anliegen offiziell nicht zuständig, werde aber dennoch so lieb sein, für mich „im System“ nachzuschauen. Gern warte ich weitere Minuten bei einer interessanten Klassik-Version von „A Whiter Shade of Pale“.
Leider, teilt Herr Brinkschulte mir mit, erhalte er derzeit keinen den Zugriff auf die entsprechenden Unterlagen, wegen der Digitalisierung. „Akten ziehen, schön wär‘s!“, lacht er etwas hysterisch. Ermutigt von seinem persönlichen Engagement frage ich Herrn Brinkschulte ob er als Insider einen Rat habe, welche Stelle mir die benötigte Information möglicherweise geben könnte? Er persönlich tippe auf das Tiefbauamt, antwortet er nach kurzer Bedenkzeit sowie Rücksprache mit seiner Büronachbarin Karin und bietet mir eine Durchwahl an. Ich danke herzlich, notiere, wähle und lande in einer ganz neuen Dudelschleife. Zwei Jazz-Standards in leichtfüßiger Pop-Version habe ich identifiziert, da ist schon die sehr aufgeräumte Frau Holtkötter am Apparat: Ja, sie habe „Zugriff aufs System“ und werde gern mein Anliegen prüfen. Dazu müsse sie genau wissen, wo ich wohne. Ich diktiere, sie tippt, murmelt, bespricht sich mit ihrem Büronachbarn Gerd. Dessen Stimmlage hat leider einen warnenden Unterton. Das war es dann wohl mit der Mitteilsamkeit der Frau Holtkötter. Nein, da habe sie sich vertan, entschuldigt sich die nette Dame, sie sei leider nicht auskunftsberechtigt. Die Zuständigkeiten seien etwas durcheinander, wegen der Umstrukturierung.
An unsere Vertrautheit von vorhin anknüpfend, bitte ich verschwörerisch um einen sachdienlichen Hinweis, ganz unter uns. Frau Holtkötter flüstert, ihrer Ansicht nach müsse die neue Tochterfirma der Stadt zuständig sein, die sich quasi direkt im Büro gegenüber befinde. Da das aber eine komplett eigenständige Firma sei, könne sie mich nicht durchstellen. Ob ich die Durchwahl wolle…? Ich bejahe enthusiastisch, notiere die Ziffern und schaue auf meine Küchenuhr. Es ist kurz vor zwölf. Frau Holtkötter raunt, sie höre von drüben noch Stimmen, ich solle es ganz fix versuchen. Ich verabschiede mich eilig, wähle, warte. „Sie rufen außerhalb…“ Der fiese Ton am Ende der Ansage fiept mich zurück ins Hier und Jetzt.
Mir dämmert es: Die damalige Verwirrung entsprang natürlich den Geburtswehen der smarten City! Heute gibt es sogar schon Pläne zum „sensorunterstützten Aasee-Monitoring“. Ein „Leezenflow“ im Stadtverkehr steht ebenso in Aussicht wie die „Thermografiebefliegung“ im Winter! Nein, ich habe auch keine Ahnung, was das bedeutet. Da müssen wir uns in den digitalen Medien schlaumachen. Ich habe meine Informationen aus der Online-Ausgabe unseres Stadtblatts, smart wie ich bin! Sicher werden noch viele tolle Pläne folgen. Die Stabsstelle Smart City entwickelt nämlich eine langfristige Smart-City-Strategie. Klingt das nicht nach Erstplatzierung?!
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Münster verpennt derzeit seine Zukunft, egal wie viel Lob es sich selbst erteilt. Niedergang in allen Bereichen, um nur die wichtigsten zu nennen: Wohnsituation, Kultur, innerstädtischer Nahverkehr, Fahrradsituation, Gastronomie, Warenangebot. Schlimm für uns Traditionsmünsteraner mitanzusehen, wie alles den Bach runter geht.