Auch wenn Münster keinen Überseehafen hat, spielte die damalige Provinzialhauptstadt während der Kolonialzeit eine nicht zu unterschätzende Rolle. Mit dieser Thematik setzt sich das Projekt „Koloniale Räume in Münster“ auseinander. Kern ist eine Karte, auf der zahlreiche Orte der kolonialen Vergangenheit Münsters verzeichnet sind. Unterteilt in die Rubriken Kolonialbewegungen, Kolonialmission, Kolonialwissenschaften, öffentlicher Raum und Wertschöpfung finden sich Gebäude, Straßennamen und Flächen, die mal mehr mal weniger offensichtlich auf Münsters Geschichte zwischen 1871 und 1918 verweisen.
Inhaltlich zeichnet das Stadtarchiv Münster für die Karte und das dazugehörige Portal verantwortlich. Der Historiker Dr. Philipp Erdmann hat gemeinsam mit dem Geschichtsstudenten Dominic Eickhoff zahlreiche historische Quellen ausgewertet, um diesen Aspekt der lokalen Geschichte zu beleuchten. Die Motivation zu dieser Arbeit ist aber nicht nur eine rein historische, wie Erdmann erklärt: „In vielen Museen wird seit einigen Jahren verstärkt nach Objekten aus kolonialen Kontexten geforscht, also Raubgut, das im Idealfall dann an die Ursprungsländer rückerstattet werden kann. Die Bundesregierung hat sich nach jahrelangen Verhandlungen auf Entschädigungszahlungen an Namibia geeinigt und zuletzt auch offiziell anerkannt, dass es sich bei den deutschen Kolonialverbrechen ab 1904 an den Herero und Nama um Völkermord handelte.“
Verantwortlich für diesen Völkermord waren Mitglieder des münsterischen Train-Bataillons, dessen Spuren sich in Münster gleich an mehreren Stellen finden. Mal bekannt und offensichtlich, wie beim umstrittenen Train-Denkmal in der Nähe des Ludgeriplatzes, mal unerkannt wie an der Ludgeristraße, wo sich in der ehemaligen Gaststätte Küpper-Fechtrup das Vereinslokal des „Vereins ehemaliger Kameraden des Train“ befand, auf dessen Initiative das Denkmal erbaut wurde. Die ehemaligen Kasernengelände, von denen sich heute keinerlei Spuren im Stadtbild finden lassen, sind ebenfalls auf der Karte verzeichnet.
Bürgerrechtsbewegungen verstärken Aufarbeitungsbemühungen
„In vielen Städten wird über ‚belastete‘ Straßennamen diskutiert, die nach Kolonialherren benannt sind. Und auch in Münster haben sich – verstärkt durch globale Bürgerrechtsbewegungen wie ‚black lives matter‘ – in den letzten Jahren engagierte Bürgerinnen und Bürger für eine kritische Aufarbeitung des deutschen kolonialen Erbes eingesetzt. Unter Eindruck dieser Debatten wollten wir vom Stadtarchiv aus in einem ersten Schritt erst einmal Informationen bereitstellen und sichtbar machen, wo überhaupt hier in Münster Kolonialismus seine Spuren hinterlassen hat. Und es sind mehr, als man zunächst annehmen könnte“, ist sich der Historiker sicher. Um die Karte und das Portal mit Informationen zu füllen, mussten die beiden Wissenschaftler mitunter tief graben: „Die Quellengrundlage ist genauso vielfältig wie die Berührungspunkte, die Münsteranerinnen und Münsteraner im Alltag mit dem Kolonialismus hatten: Tageszeitungen, Fotos und Berichte über Veranstaltungen wie Kolonialausstellungen oder Völkerschauen, Adressbücher mit Geschäftshinweisen oder Werbeanzeigen von Kolonialwaren, wissenschaftliche Berichte aus der Universität und schließlich auch klassische Akten aus den Verwaltungen.“
Die deutsche Kolonialpolitik berührte das Leben vieler Bürgerinnen und Bürger Münsters unmittelbar, wie die Einträge zahlreicher „Kolonialwarenläden“ zeigen. So befand sich unter anderem an der Georgskommende die erste münstersche Filiale des „Einkaufsvereins der Kolonialwarenhändler“, eröffnet im Jahr 1921. Dessen Abkürzung EDEKA ist bis heute fester Bestandteil der Discounterlandschaft Deutschlands.
Welche Bedeutung Münster während der Kolonialzeit hatte, zeigt die Arbeit von Erdmann und Eickhoff: „Münster war kein ‚Hot Spot‘ des deutschen Kolonialreichs, wie etwa die Hauptstadt Berlin oder die Großstädte mit Überseehafen wie Hamburg oder Bremen. Und dennoch zeigt sich vielleicht gerade an der in dieser Hinsicht relativ abgelegenen Provinzhauptstadt Münster, wie tief deutsche Städte im Kaiserreich mit den Kolonien als Konsum- und Handelsraum, aber auch als Denkmuster und Sehnsuchtsort verflochten waren. Auf wirtschaftlicher Ebene war Münster als Mittelzentrum wichtig für den Vertrieb kolonialer Produkte in die Region, auch als kultureller Mittelpunkt des Münsterlandes zog es Publikum zu Völkerschauen oder Kolonialausstellungen an.“
Im Vergleich zu manchen anderen Ländern war Deutschlands Zeit als Kolonialmacht relativ kurz, endete jedoch im Bewusstsein der Deutschen nicht mit dem Ende des ersten Weltkriegs, wie die Arbeit von Erdmann und Eickhoff zeigt: „Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Versailler Friedensvertrag verlor das Deutsche Reich seine Kolonien. Das hieß aber nicht, dass der Kolonialismus als Ideologie damit in den Köpfen der Deutschen auch Geschichte war. Ganz im Gegenteil: Nicht nur während der nationalsozialistischen Herrschaft, sondern auch in der Weimarer Demokratie nahmen Kolonialbewegungen erst richtig Fahrt auf: Politiker fast aller Parteien forderten offen die Rückeroberung von Kolonien, es gab auch weiterhin noch Kolonialausstellungen und bis mindestens 1926 wurden auch noch Menschen aus anderen Kontinenten in Völkerschauen im Münsteraner Zoo gezeigt“, wie Erdmann nachdrücklich betont.
Karte als Diskussionsgrundlage
Die Arbeit an dem Projekt war auch für den Historiker nicht frei von Überraschungen: „Die Intensität und die breite Zustimmung, mit der nach dem offiziellen Ende des Deutschen Kolonialreichs weiter offen koloniale Ideen propagiert wurden, war mir vorher nicht so bewusst. Überrascht hat mich auch die enge Verflechtung von Wissenschaften, Wirtschaft, Kirche und Gesellschaft, die sich bei allen Unterschieden in kolonialen Fragen einig waren, mitunter sogar voneinander profitierten, wenn zum Beispiel wissenschaftliche Sammlungen in Museen durch Objekte aus den Kolonien ergänzt und dann auf breites Interesse in der Bevölkerung stießen.“
Spätestens seit der heftigen Diskussion um die Umbenennung des heutigen Schlossplatzes ist klar, dass der Umgang mit der Vergangenheit auch in Münster nicht immer konfliktfrei abläuft: „Wir versuchen eine sachliche Informationsbasis zu geben für ein Thema, das aktuell ja auf vielen Ebenen intensiv diskutiert, mitunter auch erstritten wird. In den Sozialen Medien finden sich allerdings auch kritische Kommentare, die abgeleitet vom Informationsangebot eine neue Umbenennungswelle von Straßennamen befürchten. Das sind aber natürlich Entscheidungen, die in politischen Gremien gefällt werden. Wir können nur versuchen, die historischen Umstände einer Straßenbenennung darzulegen. So wurde etwa der Woermannweg von den Nationalsozialisten benannt, um einen bremischen Kaufmann als Pionier deutschen Kolonialbesitzes zu ehren.“
Die Karte soll laufend erweitert werden, wie Erdmann feststellt, daher sind Rückmeldungen aus der Bevölkerung erwünscht: „Uns ist schon bei der Recherche bewusst geworden, dass wir vorerst nur beispielhaft arbeiten können. Dementsprechend sind wir uns der Leerstellen bewusst. Auch bei Fragen der Sprachwahl haben wir immer wieder überlegt, inwieweit wir etwa Quellenbegriffe verwenden sollen, auch wenn sie eindeutig rassistisch sind, und freuen uns über entsprechende Anregungen zu unseren Formulierungen. So wie die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit und ihren Nachwirkungen bis heute anhält, wird sich auch unsere Haltung zur Kolonialgeschichte weiter wandeln. Vielleicht können wir in Zukunft dann einen historischen Überblick über die seit den 1980er Jahren in Münster zu verzeichnenden postkolonialen Aktivitäten anbieten.“
Das Projekt ist ein Angebot der Stadt Münster und findet sich hier: "Koloniale Räume in Münster" Hinter jedem Symbol auf der Karte verbirgt sich ein Eintrag mit Kurzinformationen. Mit einem Klick auf den Link "Weiterführende Informationen" öffnet sich eine Seite mit umfassenderen Hintergründen.
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