Auf dem Vorplatz und in der Eingangshalle des Theaters Münster tummelten sich am Samstagabend elegant gekleidete Menschen. Das religionskritische Theaterstück MASS feierte Premiere.
Das Musiktheater mit Tanz ist ein Auftragswerk für die Witwe des 1963 ermordeten US-Präsidenten John F. Kennedy und wurde 1971 zur Eröffnung des John F. Kennedy Center for the Performing Arts in Washington D.C. uraufgeführt. Es ist stark vom Vietnamkrieg inspiriert, der 1955 begann und erst 1975 endete. Das Thema Krieg und Frieden passt also perfekt zum Jubiläum 375 Jahre Westfälischer Frieden, was dieses Jahr mit zahlreichen Veranstaltungen in Münster und Osnabrück gefeiert wird. In der Münsteraner Inszenierung des Stücks wird größtenteils auf Englisch gesungen, deutsche Übertitel werden eingeblendet.
Glockenklänge laden ein zur Messe
Mass ist das englische Wort für Messe. Und so ist auch das gesamte Stück dem liturgischen Ablauf einer katholischen Messe nachempfunden. Das Theater Münster empfängt die Besucherinnen und Besucher im Großen Haus mit sanftem Glockengeläut, was zunächst jedoch vom Stimmengewirr des vorfreudigen Publikums fast übertönt wird. Als einige laute Glockenklänge ertönen, wird es still im fast ausverkauften Theatersaal: Die Messe beginnt.
Im Zentrum des Stücks steht ein katholischer Priester, gespielt von Samuel Schürmann, der mit seiner Gemeinde die Heilige Messe feiern möchte. Zu Beginn ist die Szenerie von Leichtigkeit geprägt: Das Orchester spielt fröhliche Klänge, ein Tanztrio bewegt sich geschmeidig um den Altar, ein Kind lässt einen weißen Papierdrachen steigen und läuft damit in Kreisen über die Bühne. Auch der Priester wirkt gelöst, läuft mit schwingenden Schritten umher und singt fröhliche Lieder. Sogar komische Elemente fließen ein, wenn er Luftgitarre spielt oder auf dem Altar wie auf einem Klavier mit den Fingern imaginäre Tasten anschlägt – und tatsächlich Töne erklingen.
Zwischen Anbetung und Kritik
Wenn Opern- und Extrachor sowie ein Kinderchor des Gymnasiums Paulinum als Messdienerinnen und Messdiener in langen weißen Gewändern gemeinsam mit dem Priester geistliche Lieder singen und sie Gott preisen, schwillt die Musik an und der ganze Saal ist davon erfüllt. Zwischenzeitlich befinden sich so viele Menschen auf der Bühne, dass es wie eine weiße Wand wirkt. Zusätzlich zu den Musikerinnen und Musikern im Orchestergraben betreten immer wieder Mitglieder des Sinfonieorchesters mit ihren Instrumenten die Bühne.
Aus der weißen Masse heraus fallen schwarz gekleidete Figuren mit aufgemalten Skeletten und Totenkopfmasken ins Auge. Dieser sogenannte Street Chorus stört immer wieder die Messe mit kritischen Einwänden und tritt den Gläubigen entgegen. Eindringlich singen einzelne Mitglieder auf ihren Muttersprachen von persönlichen Erfahrungen, die sie an ihrem Glauben zweifeln ließen: ‘What I say I don’t feel / What I feel I don’t show / What I show isn’t real / What is real, Lord – I don’t know!’ – „Was ich sage, fühle ich nicht / Was ich fühle, zeige ich nicht / Was ich zeige, ist nicht wirklich / Was wirklich ist, Herr – ich weiß es nicht!“ Der Priester zeigt sich bewegt von den kritischen Tönen. Doch zur Frustration der Rebellierenden bleibt seine Antwort im Glauben verankert: ‘Let us pray!’ – „Lasst uns beten!“
Siegt der Glaube über den Zweifel?
Die Sängerinnen und Sänger des Street Chorus machen sich in immer neuen Versuchen über den Glauben der Gemeindemitglieder lustig. Der Priester wirkt zerrieben zwischen beiden Fronten, er tadelt sowohl die bedenkenlose Anbetung als auch die achtlose Kritik. Seine Verzweiflung wächst, bis er schließlich selbst keinen klaren Gedanken mehr fassen kann. Das Tanztrio, was sich zuvor mystisch um den Altar geräkelt hat, bricht ebenfalls zusammen und liegt am Boden. Der Heilige Geist scheint die Bühne verlassen zu haben. In Schürmanns Interpretation des Priesters blitzen nun Assoziationen zum Mönch Salvatore aus dem Film Der Name der Rose auf: ein Mann der Kirche läuft ziellos umher, wirft unzusammenhängende Worte in den Raum und schlägt sich mit den Händen an den Kopf.
Erleichterung von der dramatischen Zuspitzung findet der Priester erneut in seinem Glauben. Trotz all des Leids in der Welt und persönlichen Verlusten singt er: ‘We wait for the word of the Lord’ – „Wir erwarten das Wort des Herrn“ und ‘I go on’ – „Ich mache weiter“. Zum Abschluss singt das gesamte Ensemble gemeinsam ein Loblied auf Gott. Dennoch bleibt das Bild des Priesters als gläubiger Diener Gottes ramponiert zurück.
Die berühmte Theodizeefrage – warum lässt Gott so viel Leid in der Welt zu – bleibt letztlich unbeantwortet. Das Publikum ist dennoch von der Premiere mit ihrer intensiven Musik und den stimmgewaltigen Darstellerinnen und Darstellern begeistert und würdigt die über 100 Beteiligten mit minutenlangem Applaus, der in stehenden Ovationen endet.
Das Musiktheater MASS ist noch bis zum 20. Januar 2024 im Großen Haus zu sehen. Am 31. August 2023 findet um 19 Uhr eine Begleitveranstaltung mit dem Titel "Freiheit und oder aber Frieden" im Theatertreff statt.
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