Nach der Geiselnahme, die sich am vergangenen Freitag in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Münster ereignete, konnten die Ermittler nun Teile des Hergangs rekonstruieren und die Geschehnisse aufarbeiten. NRW-Justizminister Peter Biesenbach unterrichtete inzwischen den Rechtsausschuss des Landtags in einer Sondersitzung.
Dem Bericht zufolge wurde die Zelle um 9:05 Uhr für die Frühstücksausgabe durch zwei männliche und eine weibliche Bedienstete geöffnet. Der Gefangene sei zu diesem Zeitpunkt unauffällig gewesen, heißt es. Der Mann habe seinen Wäschesack abgeben wollen, hierfür sei eine zweite Tür zur Zelle geöffnet worden. Daraufhin trat er „blitzartig mit einem großen Schritt aus dem Haftraum und nahm unvermittelt die weibliche Bedienstete als Geisel“ und habe sie mit einem selbstgebauten Schnitt- oder Stichwerkzeug bedroht, das er an ihren Hals hielt. Entgegen erster Annahmen handelte es sich hier nicht um eine verbaute Rasierklinge, sondern um eine angespitzte und in diesem Bereich gehärtete Zahnbürste. Auf welche Weise der Beschuldigte die Zahnbürste angespitzt hat, sei Gegenstand weiterer Ermittlungen.
Die Beamten lösten Alarm aus und forderten Unterstützung an. Versuche der JVA-Angestellten, den Gefangenen durch Zureden zu erreichen, schlugen fehl. Die Bediensteten versuchten daher schließlich, den Häftling „mit unmittelbarem Zwang von der Geisel zu lösen“, was ebenfalls nicht gelang. Bei dem Gerangel, bei dem die 29-jährige Geisel und der Geiselnehmer zu Boden gingen, verlor die Geisel ihren Schlüssel, mit dem der Geiselnehmer über ein Treppenhaus eine Seitenausgangstür zum sogenannten Freistundenhof erreichte. Die eingetroffene Polizei setzte Spezialeinheiten ein und nahm Kontakt zu dem Häftling auf. Trotz intensiver Kommunikationsversuche sei es nicht gelungen, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. So habe er für seine Flucht einen Polizeihubschrauber gefordert und die Geisel immer wieder mit dem spitzen Gegenstand im Bereich des Halses bedroht und angekündigt an, sie zu töten. „Er machte dabei einen psychisch unberechenbaren Eindruck“, heißt es dazu in dem Bericht. So habe er gerufen, er sei der Sohn der Jungfrau Maria und müsse – wie eine Figur in dem Film „Thor“ – zu einem Feld an einem roten Haus in Spanien, um einen Hammer zu holen und mit diesem das Coronavirus besiegen.
Der Geiselnehmer äußerte nach Angaben der Geisel, sie müssten nun „etwas machen“ und „bei drei losgehen“. Mit dem weiterhin an den Hals gehaltenen Stichwerkzeug zwang er seine Geisel, mit ihm auf SEK-Beamte zuzugehen, die einen Ausgang sicherten. Die Beamten setzten daraufhin gegen 9:10 Uhr ihre Waffen „gezielt gegen den Beschuldigten ein“. Die Geisel konnte mit nur leichten Verletzungen am Hals befreit werden, habe aber den polizeilichen Schusswaffeneinsatz unmittelbar miterlebt.
Laut Aussagen des Leiters der JVA Münster habe der Gefangene ein durchweg unangepasstes, aggressives Verhalten gezeigt, trat Bediensteten und Inhaftierten gegenüber fordernd, distanzlos und beleidigend auf. Auch kam es wiederholt zu verbalen Gewaltandrohungen. Daher seien entsprechende Sicherungsmaßnahmen angeordnet und umgesetzt worden: darunter unter anderem eine Zelle mit Doppeltür, Öffnen und Betreten des Haftraumes mit mindestens zwei Bediensteten, Einzelduschen und Einzelfreistunde sowie „Entzug und Vorenthaltung von Gegenständen, die zum Angriff dienen könnten“.
Bereits Ende 2007 war der Häftling wegen versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung zu vier Jahren und sechs Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet worden. Er hatte im Mai 2007 seiner Mutter den Hals aufgeschnitten, diese überlebte schwer verletzt. In der JVA Münster verbüßte der Mann eine wegen tätlichen Angriffs gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit versuchter Körperverletzung verhängte Freiheitsstrafe von vier Monaten, nachdem er im September letztes Jahres auf dem Gelände der LWL-Klinik in Münster randaliert und Polizisten getreten hatte. Die zunächst gewährte Strafaussetzung zur Bewährung wurde wegen Verstößen gegen Bewährungsauflagen widerrufen. Das Strafende war auf den 10.11.2020 festgelegt.