Rizin ist eines der tödlichesten Gifte. Einer von weltweit drei Menschen mit Rizin-Immunität wird am UKM behandelt. Die Erkenntnisse daraus können perspektivisch zu einem Gegengift führen.
London, 1978: Ein Reporter wartet im Stadtverkehr auf den Bus, als ein vorbeigehender Passant ihn anscheinend zufällig mit der Spitze seines Regenschirms am Bein berührt – vier Tage später ist der Mann tot. Die Obduktion ergibt, dass das Pflanzengift Rizin injiziert wurde, mittels einer millimetergroßen Platinkugel ins Bein – die Legende des Regenschirmattentats ist geboren. Obwohl Wissenschaftler bis heute kein wirksames Gegengift gefunden haben, gibt es drei Menschen auf der Welt, die das Attentat überlebt hätten: Sie alle haben einen genetisch bedingten Stoffwechsel-Defekt, können den Zucker Fucose nicht umsetzen. Forscher des Instituts für Molekulare Biotechnologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (IMBA) identifizierten jetzt mit der Unterstützung des Universitätsklinikums Münster (UKM) zwei Gene, die Rizin tödlich machen. Eines davon ist bei den Patienten defekt, deshalb sind ihre Zellen gegen das Gift immun. Die Studie ist in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins Cell Research veröffentlicht worden.
Einer der Menschen, die den Rizin-Angriff überlebt hätten, ist der 20-jährige Jakob* (Name der Redaktion bekannt), der seit seiner Geburt am UKM behandelt wird. Die Forschergruppe aus Wien griff bei ihren Untersuchungen auf Studienergebnisse zurück, die in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am UKM gewonnen wurden: „Vor fast 20 Jahren lernten wir hier Jakob kennen, der genau diese seltene Stoffwechselkrankheit hatte. Den Kollegen aus Wien stellten wir Hautproben zur Verfügung, mithilfe derer sie den Wirkungsmechanismus von Rizin entschlüsseln konnten“, erklärt Prof. Dr. Thorsten Marquardt, Leiter des Bereichs Angeborene Stoffwechselerkrankungen am UKM. Nach der Aufnahme von Jakob am UKM vor 20 Jahren war es dem UKM-Mediziner im Austausch mit Experten am münsterschen Max-Planck-Institut und aus Heidelberg nach zweijähriger Arbeit gelungen, den molekularen Defekt zu entschlüsseln und eine Therapie zu entwickeln. Die Fieberschübe, die den Jungen dazu zwangen, ein ganzes Jahr im Krankenhaus zu verbringen, waren dank der Medikation schnell vorüber.
„Die neu gewonnenen Erkenntnisse über die Entschlüsselung des Wirkmechanismus eines der tödlichsten Gifte überhaupt sind ein Paradebeispiel dafür, wie die Beschäftigung mit seltenen Erkrankungen nicht nur den betroffenen Patienten helfen kann, sondern auch fundamentale wissenschaftliche Ergebnisse liefert, die der Medizin insgesamt zugutekommen“, so Marquardt. Die Studie ist ein weiterer Schritt auf dem langen Weg zum Gegengift: „Noch ist das Zukunftsmusik, aber wir sind ein Stück weitergekommen.“
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