Von Beginn an zeigte dieses Kind seinen eigenen Kopf. Statt am ärztlich festgelegten Termin das Licht der Welt zu erblicken, ließ es mich zwei zusätzliche Wochen lang als wandelnde Kugel bei Gluthitze den Sommer in der lebenswertesten Stadt genießen. Ganz gezielt kam die Kleine an einem besonders hübschen Datum zur Welt, für welches drei Monate zuvor heiratswillige Paare am Bürgeramt extra lange Schlange gestanden hatten.
Die Jahre vergingen. Eine Pandemie brach aus und zwang Jung und Alt zur Einkehr. Als Ausgleich zum elenden Homeschooling praktizierte die zum Stubenarrest Verdammte Workouts auf der mütterlichen Yogamatte. Hier kamen ihr tiefgehende Erkenntnisse. Während des abendlichen Speiserituals durften wir daran teilhaben.
Eine sogenannte Bucket List, Dinge also, die sie für ihr Leben ersehnte, stach aus den philosophischen Erkenntnissen heraus. Die Wünsche waren vielfältig wie die Lebensentwürfe an der Schwelle zum Erwachsensein. Ihre Sehnsucht, einmal in einem Wasserfall zu duschen war für mich spontan nachvollziehbar. Andere dringende Bedürfnisse, etwa jenes nach einem Kopfsprung am Gummiseil, hätte ich spontan meiner „Never-to-Do-Liste“ zugefügt. Die Augen des Liebsten wiederum leuchteten an einer ganz bestimmten Stelle auf.
Der Tag Erwachsenwerdens kam – der Liebste überreichte stolz seinen Gutschein. Die junge Frau strahlte, die Mutter lächelte tapfer. Schenker und Beschenkte fanden ein besonders hübsches Datum fürs Einlösen des Abenteuers.
Die Nacht vor dem Großen Tag. Das Leben meiner Kleinen zieht in vielen bunten Bildern an mir vorbei. Beim Erwachen: Mutter und Kind auf dem Rad flitzen mit wehendem Haar durch den Wind. Die Zweijährige passt in ihrem an den Lenker montierten Sitz perfekt zwischen die Arme der Fahrerin. Sie trägt einen schiefen, sehr kurzen Pony, ein altmodisches Kleidchen mit schreiend bunter Strumpfhose und zu große Gummistiefel. Beide blicken konzentriert in die Ferne, ihre Wangen berühren sich ganz leicht. Die Kleine singt in festem Sopran ein Lied vom Schmetterling, den sie gern hat. Ihre Flügel hat sie weit ausgebreitet.
Beseelt und gerädert zugleich schlurfe ich in die Küche. Der Liebste kocht Kaffee und backt Kuchen, Nervennahrung für einen abenteuerlichen Tag. Die junge Erwachsene singt in zartem Pop-Sopran von unerwiderter Liebe und spielt dazu Ukulele. Sie wirkt frisch und munter. Aufgeregt sei sie nicht, sagt sie, und gibt ihre Brötchenbestellung auf. Ich schon, denke ich, und mache mich auf den Weg zum Bäcker. In den stillen Sonntagmorgen drängt sich penetranter Lärm. Am Himmel entdecke ich einen Hubschrauber, der mich mit knatternden Rotorblättern verfolgt. Mein Herz setzt kurz aus, der Magen schrumpft. Ich denke an die Menschen, für die fliegende Objekte Unheil bedeuten.
Beim Bäcker traue ich meinen Augen kaum. Die Hungrigen schlängeln sich bis zur nächsten Bushaltestelle. Die Zeitung meines Vordermannes schreit das heutige Datum. Es wird laut Schlagzeile in die Annalen der Stadt eingehen. Innerlich schlage ich mir an den Kopf: Seit Wochen predigt uns die Presse: Heute findet wegen einer Bomben-Entschärfung die größte Evakuierung aller Zeiten statt. Die nächste Bäckerei liegt schon im Sperrgebiet. Sehr langsam geht es voran. Innere Bilder drängen an. Mein Vater als Dreijähriger, an der Hand seiner verzweifelten Mutter vor einem zerbombten Haus. Der Verlust seiner eben noch warmen Lieblingsmahlzeit prägt sich schmerzlicher ein als die plötzliche Obdachlosigkeit. Meine Mutter, zur Welt gekommen „in der Evakuierung“, tausende Kilometer östlich des Kreuzviertels. Bereits als Wöchnerin flieht ihre Mutter mit dem Säugling zurück gen Westen.
Die Bäckereifachverkäuferin reißt mich aus der Trance. Ich trage die Beute nach Hause. Nach üppigem Frühstück geht es los. Die Fahranfängerin ist bester Laune. Sie navigiert uns entlang der Absperrungen zum evakuierten Gebiet sicher in die Weiten des Münsterlandes. Der Himmel strahlt, die Fliegerin auch. Mir ist mulmig.
Der Flugplatz liegt versteckt zwischen hohen Hecken. Ein offenes Areal lädt Mitgereiste zum Verweilen an Holztischen und Bänken ein. Rund ums Vereinsheim verbreiten lässige Kerle und coole Frauen in Ganzkörperanzügen ein Flair zwischen Surfcamp und Bikertreff. Minuten später steht meine Tochter im roten Overall vor mir. Sie wirkt absolut glücklich. Endlich strahle auch ich. Der Liebste sowieso. Von ganzem Herzen drücke ich einen Kuss von Maske zu Maske auf ihre weiche Wange. Dann ist sie verschwunden. Wir warten. Im freien Flug, über einem Puzzle herbstlicher Äcker im Münsterland, fällt mein Kind mit weit ausgebreiteten Armen vom glänzend blauen Himmel.
Ein Dank unserer Autorin Iris Brandewiede geht an den Fallschirmsportclub „Fallschirm Münster„.
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