An dieser Stelle treten in einer zweiten Staffel unserer Empowerment-Serie monatlich starke Persönlichkeiten auf die Bühne. Sie verfolgen ihre Herzensangelegenheiten, überwinden Barrieren mit Mut und Konsequenz – und manchmal mit pfiffigen Alltagshilfen, deren Erfindung puren Segen bedeutet.
Fotografin Ingrid Hagenhenrich hat einen unvergleichlich liebevollen Blick auf die Menschen vor ihrer Kamera. Sie nimmt sich Zeit, jede Persönlichkeit auf eigene Art zu portraitieren. Iris Brandewiede gibt ihren Worten Raum. In der zweiten Folge treffen wir die 25-jährige Victoria Loges aus Münster.
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Das Bild ist in der Kunstakademie entstanden, in meiner Kunstklasse. Die Werke, die man hier in schwarz-weiß sieht, sind von mir gemalt. Das sind inhaltlich Bilder, die meinem Verständnis von Spiritualität nahekommen. Generell öffne ich mich gerade dem Thema sehr, ich finde, dafür ist Kunst da. Man sieht mein Gesicht sehr stark im Licht – trotz Schwarzweißbild wirkt der Lichteffekt. Das kann für meine künstlerische Arbeit und auch für mein Auftreten stehen. Und für meine Überzeugung, dass ich sehr lichtvoll agieren möchte, trotz derzeitiger Einschränkungen.
Das Wort „behindert“ ist für mich komplett negativ konnotiert. Manche sagen „Das B steht nicht für behindert, sondern für besonders“ – das finde ich eigentlich auch ganz gut. Ich sehe zwar meine Einschränkungen, aber es wird wirklich versucht, mir möglichst gleiche Teilhabe zu ermöglichen. Ich fühle mich sehr gut unterstützt, besonders von meiner Familie, meinem Freund und meinem Freundeskreis. Auch die Kunstakademie möchte ich positiv herausheben. Die Dozenten* und Kommilitonen* sind immer bereit, mir zu helfen. Die Fotos sind dort entstanden, weil dieser inklusive Kontext einfach super passt. Das Kopfsteinpflaster auf dem Campus kann man nicht mal eben entfernen, und am Gebäude der Kunstakademie kann man keine schnellen Lösungen erwarten. Aber ich bekomme immer wieder die wirklich offene Frage, was man verbessern kann, auch von der Uni-Verwaltung. Die tun sehr viel, um mir zu helfen. Ich habe die Vorstellung und die Willensstärke, dass es besser wird und dass ich alles noch besser schaffen kann. Das ist eine Einstellung, die ich jeder Person wünsche. Anstatt „behindert“ würde ich also eher sagen „derzeit beeinträchtigt“.
Ich bin keine Person, die es aushalten würde, immer drinnen zu sitzen. Ich muss auch mal raus! Hier bin ich auf dem Außengelände der Akademie bei den Werkstätten. Hinten rechts liegt die Maltechnikwerkstatt. Ich male in der Kunst vermehrt, weil es dem Thema Spiritualität näherkommt. Mit Malen kann ich mich am besten ausdrücken. Die Werkstatt nutze ich oft, und mache viele Werkstattkurse. Ich möchte mich weiterentwickeln und entdecken, welche Möglichkeiten es in er Malerei noch gibt. Hier sind auch viele weitere Werkstätten wie Holz-, Metall- und Keramikwerkstatt. Durch das vielfältige Angebot kann ich mich künstlerisch entfalten.
Literaturrecherche ist sehr wichtig in meinem Studium. In Bezug auf meine Fächer Kunst und Deutsch bin ich öfters in verschiedenen Bibliotheken – da stehen wirklich tausende Bücher! Ich muss mir vorher echt Gedanken machen, wo ich etwas finde und wie ich es finde. Gerade mein Zweitfach Deutsch ist sehr viel mit Büchern und Lesen verbunden, und der Umsetzung des Gelesenen in Hausarbeiten und Referaten, mit eigenen Formulierungen, Einbettung von Zitaten und Paraphrasierungen. Wenn ich Sammelbände oder Herausgeberschriften lese, und für meine Hausarbeit ist eigentlich nur ein Artikel notwendig, dann lese ich oft einfach weiter, wenn die anderen Überschriften für mich interessant sind. Das bildet, und dadurch entwickle ich mich fachlich weiter.
Weiterentwicklung ist generell ein Thema für mich, auch gesundheitlich. Ich gucke sehr intensiv auf meine Situation und beschäftige mich damit, wie ich mein Leben weiterhin positiv gestalten kann. Hätte ich mein Handicap nicht, würde ich vielleicht nicht so tiefgehend darüber nachdenken. Das heißt, ich entwickle mich nicht nur fachlich weiter, in Bezug auf mein Studium, sondern auch auf meine persönliche Situation – mein Leben mit der Erkrankung.
Es klingt vielleicht geschwollen, aber ich kann es nur so sagen: Ich möchte immer lichtvoll voranschreiten. Selbst wenn mal schlechte Phasen oder schlechte Zeiten kommen – irgendwann geht es immer nach vorne.
Das Foto zeigt mich einmal komplett – so wie ich von Fremden auf den ersten Blick wahrgenommen werde. Meine Selbstwahrnehmung ist, dass sich meine Persönlichkeit in meiner Mimik widerspiegelt: So wie ich hier schaue, so bin ich auch.Einige meiner Eigenschaften:
Ich weiß, was ich will und ich weiß auch, wohin ich will. Dabei bin ich im Umgang eher pflegeleicht, würde ich behaupten. Hier gucke ich aber energisch und selbstbewusst.
Ich bin überhaupt nicht frech, aber ich lasse mir auch nicht alles gefallen. Meistens bin ich eher zurückhaltend, ruhig und in gewisser Weise lieb. Und dann wieder sehr direkt.
Im Hinblick auf die Inklusion erlebe ich, dass vieles noch nicht so ist, wie es sein sollte, aber dass sich viele bemühen. Im Rollstuhl zu sitzen, nehme ich gelassen an. Ich bin mir dessen bewusst, dass ich bestimmte Hilfen brauche und versuche, bestmöglich damit umzugehen. Ich nehme erstmal alles wie es ist – und mache mich bemerkbar, wenn bestimmte Dinge überhaupt nicht gehen.
Beruflich halte ich mir für die Zukunft alles offen. Gerade bin ich noch im Lehramtsstudium. Mein Praxissemester in der Oberstufe einer Gesamtschule hat mir total gut gefallen und ich habe sehr gutes Feedback von allen Beteiligten bekommen. Wenn ich vor der Klasse stand, wurde ich als jemand, der weder Schüler noch Lehrer ist, als Autorität wahrgenommen, aber im freundschaftlichen Rahmen. Das finde ich wichtig, denn wenn man den Schülern null Empathie entgegenbringt, kommt man nicht weit. Lehrkräfte und Schüler haben mich jeden Tag sehr herzlich empfangen. Bei einigen hat man am Anfang gesehen, okay, die gucken ein bisschen. Aber bei den allermeisten hatte ich das Gefühl, als würden die meinen Rollstuhl gar nicht wahrnehmen.
Ich könnte mir aber auch vorstellen, in die Erwachsenenbildung zu gehen, sprich als Kunstprofessorin zu arbeiten. Im Bachelorstudium hat mir eine Dozentin diese Möglichkeit nahegelegt. Ich könnte mir gut vorstellen, dass mein Interessensthema Spiritualität, mit dem ich mich privat und künstlerisch beschäftige, in der Kunst zukünftig mehr Gewicht bekommt. Daher halte ich an diesem Gedanken ganz stark fest. Aber erstmal möchte ich mein Studium beenden, und dann schaue ich, wohin mich der Weg führt. Ich bin ja noch jung!
* Victoria gendert im Alltag nicht, möchte aber betonen, dass mit der männlichen Form alle gemeint sind.
Alle Teile dieser Reihe gibt es hier: https://www.allesmuenster.de/tag/Herzensangelegenheiten
Der Rundgang in der Kunstakademie geht bis einschließlich 04.02.2024 (= heute, wenn dieser Artikel online geht). Mehr auf www.kunstakademie-muenster.de/aktuell Inkluencer Raul Krauthausen (https://raul.de/): DER AKTIVIST für Barrierefreiheit und Wertschätzung von Diversität „Die Neue Norm“ (https://dieneuenorm.de/podcast/): ein Trio kluger Köpfe reflektiert aktuelles Gelingen und Scheitern von Inklusion Homepage von Ingrid Hagenhenrich: https://ingrid-hagenhenrich.com/ Instagram Account von @irisbrandewie.de: https://www.instagram.com/irisbrandewie.de/
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