An dieser Stelle treten in einer zweiten Staffel unserer Empowerment-Serie monatlich junge Erwachsene auf die Bühne. Sie verfolgen ihre Herzensangelegenheiten, überwinden Barrieren mit Mut und Konsequenz.
Fotografin Ingrid Hagenhenrich hat einen unvergleichlich liebevollen Blick auf die Menschen vor ihrer Kamera. Sie nimmt sich Zeit, jede Persönlichkeit auf eigene Art zu portraitieren. Iris Brandewiede gibt ihren Worten Raum. In der achten Folge taucht die fast 18jährige Lina aus Nordwalde mit uns in ihre Welt mit viel Musik und Büchern ein. Sie lässt uns an der Vorfreude auf ihren nächsten Lebensabschnitt teilhaben – und wundert sich, dass manche Menschen eine Rollstuhlfahrerin in der Öffentlichkeit immer noch nicht stinknormal finden.
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Das bin ich! Lina, so wie sie halt ist. Lacht immer gerne, ist immer fröhlich, oder zumindest meistens. Ich liebe es, mich über mich selbst kaputt zu lachen. Das spiegelt sich in dem Foto wider. Das war schon immer so. Ich lache auch über andere, ich bin manchmal echt schadenfroh. Und manchmal bin ich auch ein bisschen albern – das gehört alles dazu. Wenn ich zum Beispiel sehe, dass jemand hinfällt und versucht, das zu kaschieren, und ich sehe den Gesichtsausdruck dabei – dann kann ich nicht anders! Es gibt so viele Situationen, wo ich einfach anfange, zu lachen. Die arme Person, die da beinahe hinfällt, denkt wahrscheinlich, ich lache über sie, aber eigentlich sehe ich in der Person eher mich selbst.
Mir passiert auch in der Öffentlichkeit oft etwas Peinliches. Dann muss ich über mich selbst lachen – und es nicht mehr so schlimm! Einmal bin ich zum Beispiel mit dem Rollstuhl ausgerutscht, bin so richtig schön in den Kackhaufen von einem Hund reingeslidet. Zu Hause dachte ich, was stinkt hier so – und dann waren die Räder ganz braun. Das fand ich lustig. Einmal bin ich mit dem Rollator gelaufen, irgendwo reingetreten und hingeflogen. Zuerst hatte ich einen Schreckmoment. Dann musste ich mir vorstellen, wie ich geguckt habe – und konnte schon wieder über mich selbst lachen!
Ich liebe es, Musik zu hören und mich in der Musik so ein bisschen zu verlieren. Seit ich ganz klein bin, habe ich beim Autofahren immer gerne Radio gehört und mich zur Musik bewegt. Wenn ich gestresst bin oder schlechte Laune habe, ist es ganz cool, Powersongs zu hören, weil mich das wieder in die richtige Bahn bringt. Im Moment ist das TEXAS HOLD’EM von Beyoncé. Je nach Gefühlslage höre ich auch gerne Schnulzen. Ich liebe es auch, die Texte zu verstehen. Taylor Swift liebe ich, zum Beispiel „Love Story“, und auch Ed Sheeran, zum Beispiel „Perfect“.
Musik begleitet mich von morgens bis abends. Ich höre Musik beim Aufstehehen, beim Duschen, beim Spazieren im Wald. Ich war ein Jahr lang in einem Internat, da bin ich richtig viel spazieren gegangen. Wenn ich Musik höre, tanze ich auch dazu, egal ob ich in der Öffentlichkeit bin oder zuhause. Zu dem Beyoncé-Song gibt es bei TikTok eine Choreografie, die habe ich auf meine Bedürfnisse abgestimmt. Im Originaltanz ist viel Beinbewegung, und ich habe für mich eine Lina-Version mit den Armen daraus gemacht. Ich tanze ohne Tanzpartner oder Gruppe, sondern einfach so, wo immer ich bin. Das mache ich primär für mich.
Meine zweite große Liebe nach dem Musikhören ist das Lesen. Diese Liebe zu Büchern und Geschichten hatte ich auch schon immer. Meine Oma liest gerne, meine Mutter liest gerne, und ich habe die Liebe zu Büchern mitbekommen. Ich lese, seit ich sechs bin. Ich liebe es, beim Lesen nicht viel nachzudenken, tauche gerne in ein Buch ein, versinke in den Geschichten. Diese Liebe zu Büchern und zum Lesen wird mich nie verlassen. Ich möchte beim Lesen nicht wirklich viel nachdenken, sondern einfach mal abschalten. Ich lese gerne kitschige Bücher, also echte Schnulzen. Sachbücher waren nie so mein Ding, ich will Geschichten lauschen.
Einmal habe ich ein Buch gelesen, und erst als ich damit fertig war, habe ich gemerkt, dass ich gerade keinen Film gucke! Ich hatte den ganzen Tag nur gelesen! Ich war echt erschrocken, als die letzte Seite kam. Da habe ich mich gefragt „Lina, was hast du heute gemacht? Garnix…?!“ Da war ich elf – mein erstes Harry Potter-Buch. Das war krass!
Mein absolutes Lieblingsbuch ist „Nur noch ein einziges Mal“ von Colleen Hoover. Das ist einerseits ein Liebesroman, aber nicht so kitschig. Es ist nicht nur oberflächlich, sondern es hat auch eine ernste Seite. Es geht um eine Dreiecksbeziehung, häusliche Gewalt spielt eine Rolle. Das ist heftig, aber schön geschrieben und mit viel Gefühl. Diese Mischung macht es für mich.
Ich bin sehr viel bei Thalia in Münster. Das ist richtig groß, geht über mehrere Etagen und ist komplett barrierefrei. Ich glaube, da kennen sie mich schon. Ich liebe es, dort zu stöbern und mein Geld für Bücher auszugeben. Meine Eltern verdrehen manchmal die Augen, weil Bücher nicht sooo günstig sind. Sie finanzieren die Bücher ja indirekt, weil es mein Taschengeld ist, das ich ausgebe.
Ich habe so einen Tick: Die Bücher, die ich lese, müssen auch in meinem Regal stehen, richtig sortiert, nach Verlag, Autor und Farbe – dann bin ich glücklich. Eine Mitgliedschaft bei einer Leihbücherei wäre nix für mich, ich brauche die Bücher in meinem Bücherregal! Die werden auch nur an enge Freunde verliehen, sonst habe ich Angst, dass ich die nicht wiederbekomme. Wenn meine Mutter auch nur eins herausnimmt, weiß ich sofort: Da fehlt ein Buch. Eigentlich bräuchte ich drei Bücherregale, aber ich habe nur zwei, weil der Platz fehlt. Da bleibt eines Tages nur, die auszumisten, die nicht so gut waren. Die müssen dann schweren Herzens weg. Das wird hart. Gerade lese ich den Liebesroman „Wenn deine Wärme meine Kälte besiegt“ von Brittainy C. Cherry – wieder mal ein sehr romantischer Titel.
Bald mache ich mein duales Fachabitur. Das heißt ich bin ein Jahr lang drei Tage wöchentlich in der KiTa und zwei Tage in der Schule, einem stinknormalen Berufskolleg in Steinfurt. Das wird wieder was ganz Neues. Ein Ponyhof wird das nicht! Ich arbeite acht Stunden in der KiTa – das kann ganz schön anstrengend werden. Für die ersten Wochen werde ich mir außer dem Einstieg nicht wirklich viel vornehmen. Am Berufskolleg werde ich die einzige Rollifahrerin sein, aber ich denke das wird ganz cool.
Bei der Berufsfindung habe ich zuerst Praktika im Büro gemacht, am Empfang. Tatsächlich dachte ich damals, das ist mein Weg. Mein erstes Praktikum in der KiTa hat mir dann aber direkt so viel Spaß gemacht, dass mir klar war: „Das will ich machen!“ Ich liebe es, dass die Kinder sich so freuen können! Die Freude über ein Bild, das ich ihnen zeichne, kann den ganzen Tag anhalten.
Bei Kindern spielt die Behinderung nicht so eine krasse Rolle, die fragen anfangs einmal: „Warum bist du im Rollstuhl?“ Ich erkläre das, und danach ist es normal, dann nehmen sie dich so wie du bist. Auch das liebe ich an Kindern: Für sie bin ich die Lina im Rollstuhl, und das ist okay. Menschen, die älter sind, gucken eher komisch, werden unsicher, trauen sich aber nicht, mich anzusprechen. Das verunsichert mich dann wieder. Das gibt es bei Kindern nicht, und ich bin dankbar dafür.
Meine Eltern und mein Umfeld sind immer schon offen damit umgegangen, dass ich behindert bin. Ich sage manchmal „Ich habe eine Behinderung“ und manchmal „Ich habe eine Einschränkung“. Das mache ich so, wie es mir gerade über die Lippen kommt. Meistens sage ich auch nicht: „Ich rolle dahin“, sondern „Ich gehe dahin“. Wenn Leute mich fragen, wie sie sich ausdrücken sollen, antworte ich: „Mir ist es ehrlich gesagt egal wie du das sagst, ich verstehe dich schon!“ Ich gehe offen mit meiner Behinderung um und habe kein Problem damit.
Wenn ich in der Öffentlichkeit unterwegs bin, sehe ich allerdings am Gesichtsausdruck mancher Leute, dass sie bei meinem Anblick denken: „Was ist das denn für ne Spezies?“ Diese Unsicherheit, nur weil ich im Rollstuhl bin, finde ich verwunderlich. Dass ich im Café, in der Eisdiele oder wo auch immer, nicht als stinknormaler Mensch wahrgenommen werde, ist echt schade, und ich hoffe, das ändert sich mal.
So ein duales Fachabitur im sozialen Bereich machen tatsächlich nicht viele Rollstuhlfahrerinnen. Für mich ist genau das ein Zeichen, es trotzdem zu machen. Ich sehe da für mich keine Einschränkungen, ich freue mich drauf. Ich hoffe es wird eine Zeit, wo ich selber an mir wachse – und vielleicht über mich hinauswachse!
Alle Teile dieser Reihe gibt es hier: https://www.allesmuenster.de/tag/Herzensangelegenheiten
Weiterführende Infos von Incluencer:innen und Aktivist:innen: „Die Neue Norm“ - Podcastfolge über Partnerschaft und Behinderung Andrea Corinna Schöne, Journalistin und Aktivistin mit Schwerpunkten Inklusion und Feminismus "bei Behinderung": @schoeneandrea Anne Gerstorff und Karina Sturm – Stoppt Ableismus! Raul Krauthausen (https://raul.de/): DER AKTIVIST für Barrierefreiheit und Wertschätzung von Diversität Zu den Autorinnen: Instagram-Account von @ingridhagenhenrich Homepage von Ingrid Hagenhenrich https://ingrid-hagenhenrich.com/ Instagram Account von @irisbrandewie.de
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