Auf dem engen Gehweg marschieren breitbeinig zwei schwere Schränke auf uns zu und poltern bei unvermindertem Tempo: „Nicht so aufdrängen! Platz machen!“ An meiner Joggingstrecke macht ein Bürger seiner Sorge per an die Bäume gepinnter Din-A-3- Order Luft: „ABSTAND HALTEN, um LEBEN ZU RETTEN“. Am Küchenfenster einer Mietswohnung hängt das Selbstporträt eines weinenden Kindes mit der Sprechblase „Corona ist scheiße!“ So weit, so zutreffend.
Seit Jahren decken wir unseren Tagesbedarf im Handel um die Ecke. Zwecks Wegwerf- und Verpackungsvermeidung, falls sich jemand noch daran erinnert. So weit, so naiv.
Plätzchen für die Oma wollten wir backen. Die muss ihren runden Geburtstag ohne uns feiern. Leider lagert das Mehl aber nicht beim Händler. Es stapelt sich in den Vorratskammern wackerer Mitbürger, die früh in die Schlacht gezogen sind. Ihnen rufe ich zu:
Esst Mehlspeisen! Viele Mehlspeisen!
Macht euren Workout beim Youtuber des Vertrauens und dann: Esst Pfannkuchen!
Sonst prophezeie ich euch nach Jahresfrist zur Borkenkäfer- und Prozessionsspinner- auch noch die Mehlmottenplage. Erfahrene Hausfrauen wissen um die Entwicklungs-Stadien der Schmetterlingsflügler: Vor der Motte steht die Verpuppung. Und davor eine Daseinsform, die nur wenige Menschen als Protein-Lieferanten schätzen.
Kam das jetzt belehrend rüber? – Sorry, Berufskrankheit!
Apropos belehren: Beruflich bin ich beschleunigt und ausgebremst zugleich. Meine Klientel benötigt viel Zuwendung, um sich neues Wissen anzueignen. Nur in winzigen Notgruppen können wir noch unsere bewährte Vermittlung mit Hand und Fuß anbieten.
Die Stubenhocker schlagen sich wacker mit wiederholendem Festigen des Gelernten. Sie werden unter unserer Fernbetreuung in ganzheitlichen Projekten kreativ. Sie reflektieren die Klassenfahrt in abwechslungsreichen Haupt- und Nebensätzen. Sie bauen eine Modelleisenbahn, unter besonderer Berücksichtigung der Winkelmessung. Ihre Erkenntnisse übermitteln sie uns in Wort und Bild, was der Server hält.
Andere Lehranstalten sind längst digital, ihre Kundschaft selbständiger. Die hängt jetzt, fleißig und voll im Zeitplan, mit den armen Homeoffice-Eltern am selben Küchentisch. Selbst meine Kleine, von jeher kämpferisch gegen jede schulische Einschränkung ihrer Selbstentfaltung, ist kooperativ. So tief beugt sie sich über die tägliche Portion digitalen Unterrichts, dass ich ihr zur Linderung abends die Omasalbe mit Bergamotte-Aroma in den Schultergürtel einmassieren muss. Die verpasst sonst der Liebste mir in Phasen übertriebener Schreibtischheimarbeit. Verkehrte Welt!
Apropos verkehrt. Mein Leben wäre jetzt mal eine schulische Prüfung mit drei Hauptfächern.
Im Fach „Mutter“ reiche ich nach objektiver Selbsteinschätzung seit Jahr und Tag ganz klar in den Exzellenzbereich hinein. Im Fach „Beruf“ gibt es sogar amtliche Beweise für meine vielseitige Expertise. Nur im Fach „Haushalt“ kam ich bislang nie über den unteren Durchschnittsbereich hinaus. Das zog die Gesamtbeurteilung fies nach unten. Ärgerlich, aber nicht zu ändern. Dachte ich.
Sollte ich mich etwa ausgerechnet diese miese Krise eines Besseren belehren?!
Ewig war unser Putzplan durch regelmäßige Besuche von außen strukturiert:
In fröhlich-routinierter Hektik holten wir exakt zwei Stunden vor dem Verwandtenbesuch, der Band-Probe, dem Essen mit Freunden Staubsauger und Feudel raus und retteten was zu retten war. Der Besuch wurde stets mit einer frischen Zitrusduft-Wolke begrüßt, während die Lappen heimlich auf einer dem Blick entzogenen Heizung trockneten.
Seit Freitag dem Dreizehnten aber habe ich bereits zweimal vollkommen anlasslos gestaubsaugt, nur weil die Krümeldichte den Blick auf den Fußboden behinderte.
Das große Fensterputzen veranlasste die Familie noch zu verstohlenen Blickwechseln.
Meine jüngste Aktivität blieb schon völlig unkommentiert: Dank meiner veränderten Wahrnehmung hatte der Anblick gewisser Flächen einen unbekannten archaischen Drang in mir ausgelöst.
Dieser wiederum legte die Erinnerung an ein merkwürdiges Werbegeschenk frei. In knisterndes Plastik verpackt und von allerlei Versprechungen begleitet, lag neulich eine Art Plastik-Gabel in unserem Briefkasten, auf welche die gute Hausfrau ein Läppchen mit vielen kleinen Wedeln zu spießen hat. Damit wischelt sie kinderleicht mal hier und mal da, und schwupps! Es glänzt die Oberfläche, die zuvor noch staubte.
Wenn das so weitergeht, werde ich meinen Gesamtscore „Hausfrau & Mutter, Homeoffice“ bald durch die Decke jagen!
Apropos weiter gehen. Diese kleine Ballade pausiert just auf ihrem Weg ins Tonstudio:
Wie war das nochmal: Treiben lassen,
gar nichts lieben, gar nichts hassen,
gar nichts müssen, gar nichts wollen, nein.
Stille hören, liegen bleiben,
Kaffee kochen, Briefe schreiben,
Worte lesen, leise sein.
Ich hab die Zeit gedreht,
so dass sie rückwärts geht,
sie wird nicht weniger,
sie wird mehr und mehr und mehr und mehr und mehr.
Ebenfalls unter dem Motto "Hausfrau & Mutter, berufstätig" hat unsere Gastautorin Iris Brandewiede jetzt auch einen YouTube-Kanal, auf dem sie versucht, alle 7 Tage mit 700 Worten in 7 Minuten ihre Leserschaft zu Hause zu besuchen...
https://www.youtube.com/watch?v=YSRTturVVA4
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