Sie ist zweifellos ein Phänomen. Ein dänisches Phänomen, das Ende Juni 70 Jahre alt wird. Ein Phänomen, das viersprachig singt und vor allem erzählt. Ob Soul, Swing, Pop, Schlager, Volkslieder – es gibt fast nichts, was sie in ihrer über 60-jährigen Bühnenkarriere nicht gesungen hat. Gestern war sie mit ihrem Programm „All by myself“ im Theater Münster – Gitte Haenning.
Natürlich meldet sie sich – dramaturgisch effektiv – mit einem Kracher, dabei sieht man sie zunächst gar nicht. Während ihre Musiker, an den Instrumenten stehend, den akustischen Teppich bereiten, hört man Gitte nur. Erst beim Refrain „Ich hab Lampenfieber“ betritt sie die Bühne unter frenetischem Jubel des münsteraner Publikums. So recht mag sich wohl niemand vorgestellt haben, dass die Grand Dame der Musik tatsächlich an dieser Künstlerkrankheit laboriert. „Hallo Münster“ begrüßt Gitte die Menschen im Großen Haus mit ihrem bekannten dänischen Akzent und dann erzählt sie, dass sie sich gar nicht mehr daran erinnern kann, wann sie das letzte mal in Münster war und dass sie heute Abend nicht einen Hit an den anderen reihen wolle. Das wäre ja ein „bischchen“ langweilig.
Während sie so redet, verwechselt sie schon mal die Artikel, die sich im Deutschen ständig ändern. Sie macht das mit so viel Charme und Sexappeal, dass man ihr gerne und aufmerksam zuhört. Sie selbst sagt, sie habe ihre Musiker alle „handgepflückt“. Und natürlich haben die Konzertbesucher schon nach den ersten paar Takten gewusst, dass da großes Kino geboten wird. Im Laufe des Abends sollen alle Bandmitglieder noch ausreichend Gelegenheit bekommen, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Nicht nur Friedemann Matzeit, der meistens am Klavier sitzt oder am Keyboard steht. „Er muss hier ein bisschen klimpern“, sagt Gitte mit einem Lächeln, fügt dann aber hinzu, „dass er lieber Saxophon spielt“. Und schon zeigt der Mann am Blasinstrument, dass das nicht nur Theorie ist.
„Das Leben muss gelebt werden, während wir leben,“ erklärt Gitte feinsinnig und nimmt einen Schluck Rotwein. Und dann wirbelt die Dänin, erstmal ein schwedisches Lied, und sofort ist Stimmung da. Es ist fetzige Musik, viel Rhythmus, viel Geschwindigkeit und eben hochklassige Musiker wie der Bassist Oliver Potratz, der später, als Gitte über die Dimension der Flüchtlingsströme spricht, von seinem Engagement in Afghanistan berichtet. Bis zur Pause singt Gitte deutsch. „Ich will alles“ darf nicht fehlen und durchs Foyer laufen die Menschen diesen Ohrwurm pfeifend. Mit Swing geht es nach der Pause weiter, Duke Ellington, Benny Goodman. Fraglich, ob das gesamte Auditorium diese Seite von Gitte kennt. Doch die Dänin nimmt alle mit, ermuntert auch Drummer Thomas Alkier zu einem fulminanten Solo. Zwischendurch legt eine junge Frau aus der dritten oder vierten Reihe eine einzelne rote Rose vor die Sängerin. Auch nach 60 Bühnenjahren kann man noch gerührt sein.
Und schon erzählt Gitte wieder, von Marlene Dietrich, auf deren Schoß sie sich – damals 17-jährig – setzen sollte. Sie habe sich ganz leicht gemacht und später schon geglaubt, dass sie sich die Szenerie nur eingebildet habe, bis ihr ein bekannter Fotograf eine Aufnahme davon gezeigt habe. Die Stimmung bleibt großartig, egal ob Gitte vom „Showtime dinner“, „Somehere is music“ oder von der jungen Frau singt, die sich so sehr nach einem Lover sehnt: „Some day we’ll meet and you will dry all my tears.“ Und dann haben sie plötzlich alle Cowboy-Hüte auf, eine Weile zupft der Bassist die Saiten seines Kontrabass, und, na klar, spätestens als Gitarrist Benedikt Reichenbach ein klein wenig Bonanza anspielt, wissen alle: „Ich will ’nen Cowboy als Mann.“ Doch Gitte wäre nicht Gitte, wenn sie nicht eine ganz eigene Fassung zelebriert, die mit dem Original nur noch den Titel und ein paar Takte gemein hat. Der Cowboy von 1963 erfährt – musikalisch – quasi die Großstadt. Keine Pferd in Chaps sondern Motorrad im Lederkombi.
Diese Künstlerin hat ein fantastisches, kurzweiliges, abwechslungsreiches, temporeiches und musikalisch hochwertiges Konzert in Münster gegeben. Menschen, denen ein Besuch nicht vergönnt war, kann man durchaus bedauern.
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