Das wahre Leben und surreale Welten Ein Festival der Kontraste: Die FLURSTÜCKE boten am Freitag ein abwechslungsreiches Programm zwischen sozialem Anspruch und grandiosen Schauwerten

Die Französische Gruppe Ilotopie sorgte mit „Fous des Bassin“ für den optischen Höhepunkt der Flurstücke 2024. (Foto: Thomas Hölscher)

Die Flurstücke 2024 haben am Freitagabend am Aasee wohl ihren Höhepunkt erlebt – jedenfalls was die Zuschauerzahlen betrifft. Viele versprachen sich von dem Stück „Fous des Bassin“ mit der französischen Gruppe Ilotopie genau das, was sie seit Jahren an dieser Veranstaltungsreihe, dem Theater Titanick und den mit ihm verbundenen Gruppen lieben: Kunst mit spektakulären Schauwerten. Wir haben uns aber auch ein paar ruhigere Programmpunkte der aktuellen Flurstücke angesehen, die schon vom Konzept her nicht für so viel Publikum gedacht sind.

Für „Habitaculum“ von der Gruppe Kamchàtka aus Barcelona musste man sich vorab anmelden. Nicht nur weil die Teilnehmerplätze begrenzt waren, sondern weil auch der Ort geheim bleiben sollte, an dem das Ganze stattfindet. Der befindet sich hauptsächlich in zurzeit leer stehenden Büroräumen in der Nähe des Bahnhofs. Auch wie lange es dauert, wurde dem Publikum nicht mitgeteilt. „Da drinnen war es leicht, die Zeit zu vergessen“, verriet uns eine Teilnehmerin. Sie war schließlich anderthalb Stunden in dieser Installation unterwegs, einer anderen wurde zu Beginn aber auf Nachfrage etwas von einer Viertelstunde erzählt. Man hätte sicher auch früher gehen können, wurde aber so stark in eine Art Handlung eingebunden, das wohl kaum einer daran dachte.

Denn man kam an dem eigentlichen Spielort nicht nur als Zuschauer an, sondern erhielt schon an einer der Stationen davor eine Nummer, mitsamt der Aufforderung, diese stets gut sichtbar zu halten. War man erst einmal vor Ort, bekam man Aufgaben zugeteilt. „Ich musste warmes Wasser abliefern und dann Zitronenscheiben kredenzen“, berichtete uns ein Teilnehmer. Denn an diesem Ort hat „eine Gruppe von Menschen Quartier gefunden“, wie es in der Programmbeschreibung heißt, „vielleicht sogar ein Zuhause? Sie sind gerade erst eingetroffen und wünschen sich, von der Gesellschaft willkommen geheißen zu werden.“

Die Räume waren sehr unterschiedlich gestaltet, auch wenn immer wieder alte Koffer als Requisiten auftauchten. Wir konnten diese „lebendige Installation“ vorab kurz nur menschenleer besichtigen und fotografieren, die Teilnehmer sollten das ganz unterlassen und möglichst sogar ihre Smartphone wie auch weitere persönliche Gegenstände abgeben. Zudem wurden Paare früh getrennt, was bei vielen sicher zu einer weiteren Verunsicherung geführt haben mag. So haben an diesem Wochenende einige Münsteraner am eigenen Leib ein wenig davon erfahren, wie es ist, ein Flüchtling zu sein. Denn selten wird man so spielerisch und doch überzeugend vom Zuschauer zum Akteur in einer Performance, selten trifft das heutzutage so gern bemühte Wort von einem „immersiven“ Kunstwerk so gut zu.

Der „Dekolonialwarenladen“ lädt zum Zuhören ein

Unsere Komfortzonen zu verlassen, dazu fordert auch die überwiegend akustische Installation in der Stadthausgalerie auf (am Samstag noch bis 20 Uhr, am Sonntag 12 bis 16 Uhr). Dort ist im „Dekolonialwarenladen“ von dem Künstler Stefan Demming und dem kenianischen Musiker KMRU (Joseph Kamaru) zu erleben, wie wir unsere Perspektive auf die Welt ändern können oder sollten. Wie in einem historischen Kolonialwarenladen warten unzählige Schrankfächer darauf, geöffnet zu werden. Darin ist dann mitunter etwas zu sehen oder zu lesen, immer aber etwas zu hören. Es geht dabei stets um unseren europäischen Blick auf die sogenannte „Dritte Welt“, bei dem einem auch aus gut gemeinten Schilderungen – zum Beispiel einer westfälischen Missionsschwester in Papua-Neuguinea – die Betrachtung von oben herab auffällt, wie wir sie von Kolonialherren aus dem 19. Jahrhundert kennen.

Die Gruppe Motionhouse zeigt den „Großstadtdschungel“

So politisch und gesellschaftlich relevant wie diese beiden Programmpunkte der Flurstücke 2024 oder auch das Eröffnungsstück „Kipppunkt“ vom Theater Titanick wirkten die am Freitag am besten besuchten Aufführungen nicht. Gut eintausend Zuschauer lockte die englische Truppe Motionhouse an die Aaseeterrassen, wesentlich mehr als tags zuvor in den Rathausinnenhof. Zwar erzählen auch die drei Männer und drei Frauen mit ihrem Programm „Wild“ eine Geschichte, aber die ist im Prinzip schnell erzählt: Sie nehmen das Wort vom „Großstadtdschungel“ einfach wörtlich und wechseln von Alltagsszenen in einer modernen Metropole mit U-Bahn, Handys und Laptoptaschen in eine animalische Welt, in der sie zwischen Bäumen turnen, und wieder zurück. Das, was man hier Geschichte nennen könnte, tritt bei den vielen atemberaubenden akrobatischen Bewegungen allerdings in den Hintergrund.

Französische Gruppe Ilotopie sorgte für optischen Höhepunkt der Flurstücke 2024

Noch mehr Zuschauer fanden sich geduldig bis nach 22 Uhr wartend zwischen den Giant Pool Balls und dem Aasee-Rondell ein. Denn hier erwarteten viele den optischen Höhepunkt der diesjährigen Flurstücke, „Fous des Bassin“ mit der französischen Gruppe Ilotopie. Sie ließ auf dem Aasees eine surrealistische Traumwelt entstehen, die immer bildgewaltiger und absurder wurde. Zunächst waren es Fahrräder, ein Auto, ein Straßenkehrer und eine Frau mit Kinderwagen, die sich wie selbstverständlich über das Wasser bewegten. Aber spätestens als der Kleinwagen mit einem riesigen Bett kollidierte, zog die Truppe einen immer tiefer in eine Traumwelt, die mitunter alptraumhafte Züge trug. Es passierte hier manchmal so vieles gleichzeitig, dass man gar nicht mehr wusste, wo man hinschauen sollte. Ganz unterschiedliche Schiffe mit martialisch aussehenden Gestalten traten auf, immer wieder loderte Feuer. Ein übergroßes Tretrad kam hinzu, das nicht nur als Fortbewegungsmittel diente, sondern auch den riesigen Unterkörper für eine barock gekleidete Figur bildete – und die Basis für allerlei Feuerwerke. Mit einem großen Feuerwerk über die gesamte Breite des Aasees fand dieses Stück dann auch sein umjubeltes Finale.

Die Flurstücke gehen noch bis Sonntagnachmittag, den Abschluss bildet dann ab 17 Uhr die „Dekonstruktion“, also der Abriss, des aus Pappkartons nachgebauten Elefantenhauses aus dem alten Zoo in Münster. Das hat der Franzose Olivier Grossetête heute erst auf dem Stubengassenplatz mit vielen Helfern aus der Stadt aufgebaut, Richtfest soll am heutigen Samstag ab 18 Uhr gefeiert werden.

 

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