„Ich setze mir immer ein Jahresziel!“ Folge 12 der Serie „Starke Geister oder: Mein FASD ganz normales Leben“ von Iris Brandewiede und Ingrid Hagenhenrich mit dem 25-jährigen Jason

„Mein Jahresziel in diesem Jahr: Der Führerschein.“ (Foto: Ingrid Hagenhenrich)
„Mein Jahresziel in diesem Jahr: Der Führerschein.“ (Foto: Ingrid Hagenhenrich)

An dieser Stelle haben sich ein Jahr lang monatlich starke Persönlichkeiten gezeigt, deren Einschränkungen der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt sind. Dieses Dutzend junger Menschen steht für eine weitaus größere Zahl unentdeckter Betroffener, die nicht alle Kinder suchtkranker Mütter sind. Viele Schwangere wissen nicht, dass der unausgereifte Organismus ihres Fötus das Zellgift eines „Gläschens in Ehren“ viel langsamer abbaut als ihr eigener Körper. Welche exakten Zusammenhänge es zwischen konsumierter Alkoholmenge und gesundheitlichen Auswirkungen für das Ungeborene gibt, ist medizinisch noch nicht gesichert. 

Wenn Neugeborene untergewichtig, mit auffällig kleinem Kopf sowie einer speziellen Physiognomie zur Welt kommen und der Alkoholkonsum der Mutter bekannt sind, wird das Fetale Alkoholsyndrom (FAS) leicht diagnostizierbar. Aber auch wenn Babys nach einer Belastung durch Alkohol vermeintlich gesund zur Welt kommen, können sie während des Heranwachsens Auffälligkeiten zeigen. Diese Beeinträchtigungen werden unter der Fetalen Alkoholspektrumstörung oder FASD (Fetal Alkohol Spectrum Disorder) zusammengefasst.

Sie beeinflussen das Leben ebenfalls dauerhaft. Die Symptome werden oft mit denen eines ADHS oder psychischen Erkrankungen verwechselt. Häufig werden die Auffälligkeiten der Kinder als Resultat mangelhafter Erziehung eingeordnet. Der Weg zu passgenauen Hilfen ist oft lang, leidvoll und von vielen Rückschlägen geprägt.

Fotografin Ingrid Hagenhenrich hat einen unvergleichlich liebevollen Blick auf die Menschen vor ihrer Kamera. Sie nimmt sich Zeit, jede spezielle Persönlichkeit zu portraitieren. Iris Brandewiede gibt ihren Worten Raum. In der zwölften und letzten Folge der Serie treffen wir den 25-jährigen Jason Kornetzki aus Münster.

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Ich fang mal mit dem Lebenslauf an. Ich bin mit zwei Jahren in eine sehr gute Pflegefamilie gekommen, in einem kleinen Ort in Schleswig-Holstein, das war sehr, sehr gut für mich. Da bin ich mit einem vier Jahre älteren Bruder und nochmal vier Jahre älteren Zwillingsschwestern aufgewachsen. Ich mag alle meine Geschwister und ich habe heute noch eine sehr gute Beziehung zu meiner Familie. Damals war das FAS noch nicht so bekannt. Es gab aber einen Zufall: Meine Tante arbeitet im Krankenhaus und hatte einen Kollegen, der kannte das FAS schon. Er hat uns einen Diagnostiker in Münster empfohlen, das war in der zweiten Klasse. Dann bin ich auf eine Behindertenschule für geistige und körperliche Behinderungen gekommen. Meine Eltern hatten Sorge, dass ich in einer Hauptschule in falsche Bahnen komme. Ich hatte eine gute Zeit in der Schule, aber ich habe nie Englisch gelernt. Das ist eine Sache, die ich auf einer anderen Schule gelernt hätte. Da ich sehr gerne reise, fehlt mir das sehr. Aber auch damit komme ich klar, ich reise trotzdem überall hin. Was gut war an dieser Schule: Dort habe ich dreimal das Qualifiying für die Special Olympics gemacht. Wir waren dreimal dabei – mit Basketball, Tischtennis und Fußball. Beim Sport war ich immer richtig, richtig gut.

Jedes Jahr zu Weihnachten und zum Geburtstag habe ich ein Paket meiner leiblichen Mutter bekommen. Als ich so weit war, mal nach ihr zu forschen, war das schwierig. Sie ist drogenabhängig und war oft im Gefängnis. Drogen zu nehmen, das macht man nicht ohne Grund. Ich habe verstanden, dass sie auch ihre Probleme hatte. Meine Behinderung habe ich sehr früh akzeptiert. Erst viel später habe ich andere Menschen mit FAS kennengelernt und verstanden, wie unterschiedlich wir sind. Mich hat es eigentlich ziemlich gut erwischt. Natürlich ist es ein Problem, wenn deine Schwester nach Hause kommt und hat an der Uni eine Bestnote bekommen – und du bist auf einer Behindertenschule. Aber ich kann total viel machen und habe sehr viele Ziele schon erreicht. Ich habe einen sehr guten gesetzlichen Betreuer, den brauche ich auch. Er kümmert sich um den Papierkram, meine Finanzen und meine Gesundheit. Ich setze mir immer ein Jahresziel. Daran arbeite ich das ganze Jahr lang, und bis jetzt habe ich sie immer erreicht. Dieses Jahr ist mein Ziel: Ich möchte den Führerschein machen.

„Tischler zu werden, war immer mein Traum.“ (Foto: Ingrid Hagenhenrich)
„Tischler zu werden, war immer mein Traum.“ (Foto: Ingrid Hagenhenrich)

Ich reise sehr, sehr gerne und ich fotografiere sehr viel, vor allem Tiere in freier Natur. 2006 bin ich zu den Pfadfindern gekommen, dadurch habe ich das Leben in der Natur und die Verantwortung dafür gelernt, das hat mich geprägt. Ich fahre immer noch jedes Jahr ins Sommerlager. Mit den Pfadfindern habe ich Skandinavien schon fast komplett gesehen. Mich interessieren Länder, die noch nicht überlaufen sind, die Slowakei, auch Tschechien. Ich kann kein Englisch, aber ich war in Irland, mit Leuten, die ich über eine App gefunden habe. Gefühlt kannten wir uns sechs Stunden und sind wandern gegangen. Als Nächstes fahren wir zusammen nach Island. Ich mag die Kälte – zehn bis zwanzig Grad sind perfekt. Ich habe so viel an Tieren in freier Natur gesehen, langsam gehen mir die Motive aus. Mit einer Freundin werde ich nach Rumänien fliegen. Dort gibt es noch 6000 Braunbären. Ich hoffe, ich werde nachts dasitzen, Wölfe heulen hören und Braunbären fotografieren.

Ich habe mir mit achtzehn einfach gewünscht, auszuziehen, mein eigenes Leben zu Leben. Tischler zu werden, war immer mein Traum. Zu Hause hat es immer mal gekriselt, wie bei vielen, wenn man erwachsen wird, wahrscheinlich eher noch mehr. In Norddeutschland habe ich mir als möglichen Arbeitsplatz einen Bauernhof angeguckt. Der war total schön, mit einer kleinen Tischlerei und Tieren. Aber in dem Alter konnte ich mir so gar nicht vorstellen, regelmäßig um sechs Uhr aufzustehen und im Stall zu stehen, um die Tiere zu füttern. Die andere Option war eine Behindertenwerkstatt bei Münster. Da ich in einem kleinen Ort aufgewachsen bin, fand ich es gut, nahe an eine große Studentenstadt zu ziehen. Meine Mitschüler haben immer gesagt: „Ich gehe nicht in die Behindertenwerkstatt!“ – Ich hab gesagt: „Ich geh da jetzt einfach hin, man kann sich überall hocharbeiten.

Also habe ich in der Werkstatt für Behinderte zwei Jahre lang den Berufsbildungsbereich durchgemacht und in einer Außenwohngruppe gelebt. Bald hatte ich einen Außenarbeitsplatz in der Fertigung von Fahrradkörben. Das war aber auf Dauer nix für mich, ich wollte unbedingt auf den ersten Arbeitsmarkt. Am Ende hat der Chef wortwörtlich zu mir gesagt: „Sie stören hier die Harmonie!“ Da habe ich gekündigt. Danach bin ich zu einem anderen Anbieter gegangen und habe direkt gesagt: „Ich will nicht in die Werkstatt! Ich will direkt einen Außenarbeitsplatz– an der Motivation scheitert es nicht.“ Leider sind wir dort auch bald auseinander gegangen. Damals hat es viel Stress gegeben, ich habe auch Drogen genommen. Ich hatte einfach keine Chance, auf den ersten Arbeitsmarkt zu kommen. Da habe ich wieder gekündigt, habe alles auf eine Karte gesetzt und habe gesagt: „Ich fange in Münster neu an.“ Dort bin ich zuerst in eine 2er-WG gezogen. Das hat nicht so gut geklappt. Dann habe ich meine Wohnung gefunden, in der ich jetzt lebe. Dann habe ich einen Monat nur Bewerbungen geschrieben. Für meine Wohnung brauchte ich natürlich Möbel. Also bin ich in eine Flohmarkthalle gegangen.

„Ich mache hier alles. Mein Chef vertraut mir voll.“ (Foto: Ingrid Hagenhenrich)
„Ich mache hier alles. Mein Chef vertraut mir voll.“ (Foto: Ingrid Hagenhenrich)

In der Flohmarkthalle sah es aus wie bei den drei Fragezeichen – wie ein Ort, von dem ich immer geträumt habe. Ich habe sofort gesagt: „Ich möchte Arbeit. Ich hatte schon immer ein Faible für alte Möbel und auch für die Restauration.“ Meinem jetzigen Chef ist es egal, welchen Abschluss eine Person hat. Er hat sich damals gesagt, okay, er hat eine Behinderung, er wird am PC nicht so der Stärkste sein und hat mich erstmal zu Entrümpelungen geschickt. Er dachte: „Der macht das ne Woche“, aber nach zwei Tagen wusste er: „Der macht das sein Leben lang!“

Inzwischen mache ich hier alles, ich habe mich immer weiter hochgearbeitet. Mein Chef vertraut mir voll. Er hat einfach gesehen: Ich habe eine Liebe zu Möbeln, kann gut mit Maschinen umgehen und auch Möbel herrichten. Ich habe auch ein Auge für Designermöbel. Inzwischen habe ich eine Festanstellung. Das Arbeitsamt hat die Unterstützung meines Arbeitsplatzes zugesagt, für fünf Jahre. Und mein Chef hat sich verpflichtet, mich danach weitere fünf Jahre zu beschäftigen. Er möchte aber auch, dass ich mich qualifiziere. Mein Chef ist jemand, der unterstützt Leute. Hier haben schon viele gearbeitet, die sich selbständig gemacht haben. Jetzt sind wir dabei, die Finanzierung meines Führerscheins zu bekommen.

„Das ist so ein Manu-Moment…“ (Foto: Ingrid Hagenhenrich)
„Das ist so ein Manu-Moment…“ (Foto: Ingrid Hagenhenrich)

In dieser Branche muss man professionell sein, darf aber auch ein bisschen verrückt sein. Mein Chef und ich sind beides. Auf dem Foto sieht man einen echten Manu-Moment. Er ist ein sehr wichtiger Mensch für mich. Er kennt mich einfach und versteht zum Beispiel überhaupt nicht, weshalb ich nur wegen meiner Behinderung einen psychologischen Test nach dem anderen für die Führerscheinberechtigung machen muss. Er telefoniert so lange für mich herum, bis das durch ist. Meine Eltern haben mich immer unterstützt und sind weiterhin für mich da, wenn es hart auf hart kommt. Vielleicht hätte ich ihnen das mal öfter sagen sollen. Mein Vater ist zum Beispiel nach Norwegen geflogen, als ich mich im Urlaub verletzt habe. Meine Mutter ist immer noch für mich da, obwohl unser Verhältnis damals in meiner Drogenzeit ziemlich kaputtgegangen ist. – Dazu muss man wissen, dass meine Mutter im Bereich der Suchtbehandlung tätig ist. Wie schwer muss das für sie gewesen sein! Zu meinen Geschwistern habe ich weiterhin ein sehr gutes Verhältnis – mein großer Bruder darf mir immer noch Sprüche drücken.

Einer der wichtigsten Menschen für mich ist mein Sippenleiter aus der Pfadfinderzeit, der drei Jahre älter ist als ich. Er hat schon in der Kindheit zu mir gesagt, ich bin behindert, aber ich habe Qualitäten. Bei einem Helferkurs durfte ich eigentlich nicht mitmachen, weil ich behindert war. Er hat dafür gesorgt, dass ich mitmachen durfte. Auch das schwarzrote Tuch der Leitungen habe ich verliehen bekommen, weil er gesagt hat: „Jason kriegt das jetzt. Dem kann man Verantwortung geben.“ Ihn kann ich immer noch jederzeit anrufen. Meine letzte Beziehung hatte ich mit einer Studentin. Bevor sie für ein Jahr ins Ausland gegangen ist, haben wir uns zusammengesetzt. Sie ist eine junge Frau, sie will nach dem Jahr vielleicht noch ihren Bachelor im Ausland machen. Da wollte ich ihr nicht im Weg stehen. Ich habe zu ihr gesagt: „Du musst am Ende des Tages in den Spiegel schauen und glücklich sein. Jeder geht seinen Weg.“ Ein Jahr hätten wir zusammen durchgezogen – aber wir wissen nicht, was kommt. Wir sind im Guten auseinander gegangen, und wir schreiben uns immer noch.

Ein nächstes Ziel für mich ist: Ich möchte mich gern für Inklusion starkmachen. Ich bin ja das beste Beispiel dafür. Ich habe überhaupt kein Problem, über meine Behinderung zu sprechen, und habe auch die Erfahrung, wo Inklusion richtig scheiße läuft. Bevor ich mich damit mehr beschäftige, war mir aber klar: Zuerst will ich in meinem eigenen Leben stehen. Ich will einen Beruf haben, meine Steuern zahlen und will zeigen, dass man es schaffen kann. Ich will dafür kein Geld oder Klicks, ich will kein Influencer sein oder berühmt werden. Es wäre echt das Schlimmste, durch Münster zu gehen und jeder Idiot erkennt dich! Ich will nur Leuten die Motivation geben: Es geht auch anders, jeder hat seine Stärken und Schwächen. Eins meiner Ziele ist es, einmal bei Böhmermann oder in einem Podcast mit riesiger Reichweite zu sitzen, und dann denen, die immer zu mir gesagt haben: „Du kannst nix!“ zurückzugeben: „Sie stören hier die Harmonie!“

Alle Teile unserer FASD-Reihe gibt es hier: https://www.allesmuenster.de/tag/fasd/

Homepage von Ingrid Hagenhenrich: https://ingrid-hagenhenrich.com/ 

Biographie einer jungen Frau mit FASD: 
„Ich lasse mich nicht unterkriegen, so lange Worte meine Wut besiegen“, Selina Spetter, agenda Verlag Münster 
https://agenda-verlag.de/produkt/selina-spetter-ich-lasse-mich-nicht-unterkriegen-solange-worte-meine-wut-besiegen/ 

Biographie von Tim: 
Tim – ein Leben mit dem fetalen Alkoholsyndrom, Monika Reidegeld, edition blaes – der kleine Verlag 
https://shop.editionblaes.de/produkt/tim-ein-leben-mit-dem-fetalen-alkoholsyndrom/

Fachzentrum für Kinder mit FASD: fasd-fz-koeln.de 

Hintergrund-Informationen über das FASD gibt es u.a. hier:
„Chaos im Kopf“ – dein FASD Podcast https://www.chaosimkopf.info/
Institut FASD Münster https://www.institut-fasd.de/Startseite/
FASzinierendD – Homepage von Ralf Neier https://faszinierend.org/

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