An dieser Stelle zeigen sich einmal im Monat starke Persönlichkeiten, deren Einschränkungen der Öffentlichkeit noch weitgehend unbekannt sind. Das „Fetale Alkoholsyndrom“, kurz FAS, wird in Deutschland erst von wenigen Fachleuten erkannt und diagnostiziert. Weiter gefasst und angelehnt an den anglo-amerikanischen Sprachraum, sprechen sie von der Fetal Alcohol Spectrum Disorder (deutsch: Fetale Alkoholspektrumstörung), kurz FASD.
Kinder, die vor ihrer Geburt dem Alkoholkonsum der werdenden Mutter ausgesetzt sind, können während des Heranwachsens schwere Einschränkungen zeigen, selbst wenn sie augenscheinlich als gesunde Babys zur Welt kommen. Unheilbaren Schädigungen verursachen Symptome, die oft mit anderen Syndromen wie ADHS oder psychischen Erkrankungen verwechselt werden. Regelmäßig werden die Auffälligkeiten der Kinder auch als Resultat mangelhafter Erziehung kategorisiert. Der Weg zu staatlicher Unterstützung und passgenauen Hilfen ist oft lang, leidvoll und von vielen Rückschlägen für alle Beteiligten geprägt.
Fotografin Ingrid Hagenhenrich hat einen unvergleichlich liebevollen Blick auf die Menschen vor ihrer Kamera. Sie nimmt sich Zeit, jede spezielle Persönlichkeit zu portraitieren. Iris Brandewiede gibt ihren Worten Raum. In der ersten Folge der neuen Serie treffen wir die 19-jährige Annalina aus Münster.
*****
Das erste Wort, das mir zum Leben mit FASD einfällt, ist „Warrior“ – ich bin eine Kämpferin. Menschen mit dieser Einschränkung müssen für alles, was sie tun, kämpfen. Das ist wirklich kraftraubend. Der Kopf sagt dir ständig: Du kannst das nicht. Mit diesen Stimmen im Kopf müssen wir auch kämpfen. Es gibt für mich kein Aufgeben. Mein Motto: „Ich bin aufgestanden, um ein Ziel zu erreichen. Und ich gehe nicht schlafen, bevor ich alles getan habe, um es zu erreichen.“
Unser Hund heißt Akela – wie der weiße Wolf und Rudelanführer im Dschungelbuch. In dem Bild sind wir wie zwei vereinte Seelen. Ich konzentriere mich auf ihn, und er schaut in die Kamera. Er spricht für mich! Diese Harmonie ist schwer zu erklären. Wir existieren getrennt, aber wir fügen uns zu gemeinsamer Stärke zusammen.
Fast alle Menschen mit FASD haben wegen der Gehirnschädigung das Problem, dass sie Gelerntes immer wieder vergessen. Ich habe drei Methoden, meine Merkfähigkeit zu trainieren: Ich schreibe alles mehrfach auf.
Ich visualisiere immer wieder die Situationen, die als nächstes auf mich zukommen. Ich setze auf mein Körpergedächtnis. So habe ich es durch mein FSJ in einer Tagespflegeeinrichtung für Senioren geschafft – und so will ich jetzt auch die Hauswirtschafts-Ausbildung in einem Altenpflegezentrum schaffen. Ich konnte von Anfang an gut mit Menschen mit Demenz umgehen – ich habe ja selbst ein unzuverlässiges Gedächtnis.
Hier visualisiere ich gerade meine Arbeit. Ich habe das zubereitete Essen für die Senioren püriert, damit sie trotz Schluckbeschwerden den Geschmack genießen können. Jetzt gehe ich im Geist durch die einzelnen Arbeitsschritte, damit ich nichts vergesse: „Rechts habe ich das Gemüse, links das Fleisch. Ich fülle die Mahlzeiten in die vorgewärmten Teller auf dem Heißwagen. Danach gebe ich die verderblichen Reste in den Abfall.“
Mein Arbeitsplatz und meine Berufsschule liegen zum Glück nahe beieinander. Das ist für mein Gedächtnis eine große Hilfe, weil ich immer denselben Weg mit dem Fahrrad fahren kann. Ich muss immer nur entscheiden: „Muss ich heute links abbiegen, oder muss ich rechts abbiegen?“ FAS-Menschen müssen doppelt so viel Kraft aufwenden, um einen Prozess ins Körpergedächtnis zu bekommen. Auch Leistungs-Sportler nutzen das Visualisieren: Sie gehen ihre Trainingssituation im Geiste immer wieder durch.
Ich selbst betreibe intensiv Sport, eine Kombination aus Jazz-Musical-Dance, Modern und Contemporary. Meine Tanzlehrerin kennt meine Beeinträchtigung und kann mich gut einschätzen.
Jahrelang war ich das einzige Mädchen mit Beeinträchtigung. Tatsächlich habe ich in meiner geliebten Sportart schon Mobbing erleben müssen. Ein Mädchen hat meine Einschränkungen ausgenutzt und mich lächerlich gemacht, um sich besser zu fühlen. Ich wusste aber: Diejenigen, die geärgert werden, sind sehr stark, weil sie so viel aushalten können. Ich habe zum Glück in der Schule spielerisch gelernt, solche Situationen zu verstehen. Inzwischen ist beim Tanzen eine weitere Person dazu gekommen, die Hilfe benötigt. Ich habe ich mich zu jemandem gemausert, dem man etwas zutrauen kann: Ich übernehme für das neue Mädchen die Patenschaft, damit sie sich in die Gruppe gut einlebt.
Ich bin ein Mensch mit Macken und Stärken. Beim Tanzen gehen alle einen Kompromiss ein. Das ist das Prinzip der Teamarbeit. Und dann erschaffen wir auf der Bühne ein schönes Bild.
Übrigens bereiten wir gerade für den Mai eine große Aufführung vor. Der Kartenverkauf läuft schon.
Ingrid Hagenhenrich kommt Menschen mit ihrer Kamera nahe. Schicksalsworte wie „Demenz“ und Makel wie „kreisrunder Haarausfall“ verlieren den Schrecken, wenn Ingrid auf die Schönheit dieser besonderen Person vor ihrer Linse blickt. Genauso nähert sie sich den hier vorgestellten starken Persönlichkeiten mit der sperrigen Diagnose FASD.
Alle Teile unserer FASD-Reihe gibt es hier: https://www.allesmuenster.de/tag/fasd/
Homepage von Ingrid Hagenhenrich: https://ingrid-hagenhenrich.com/ Die erwähnten Tanz-Aufführungen unter www.localticketing.de Hintergrund-Informationen über das FASD gibt es u.a. hier: Biographie einer jungen Frau mit dem FASD unter agenda-verlag.de „Chaos im Kopf“ – dein FASD Podcast https://www.chaosimkopf.info/ Institut FASD Münster https://www.institut-fasd.de/Startseite/ FASzinierendD – Homepage von Ralf Neier https://faszinierend.org/
- „Menschen mit Behinderung die Tür öffnen“ In der 12. und letzten Folge unserer Serie „Herzensangelegenheiten“ treffen wir die 26-jährige Maike Meuthen aus Telgte, die heute an der südlichen Weinstraße lebt - 8. Dezember 2024
- „Traut behinderten Menschen mehr zu“ In der 11. Folge unserer Serie „Herzensangelegenheiten“ treffen wir den 29-jährigen Welat aus Münster - 10. November 2024
- „Ich hab mein Hobby zum Beruf gemacht“ In der 10. Folge unserer Serie „Herzensangelegenheiten“ treffen wir den 19-jährigen Navid aus Sendenhorst - 6. Oktober 2024
Guten Tag Frau Brandewiede,
ich habe von Wolfgang Werminghausen erfahren, dass Sie Personen portraitieren, die eine besondere Geschichte zu erzählen haben. Mein Sohn Tim ist ein Erwachsener mit einem Fetalen Alkoholsyndrom. Seine Diagnose hat er erst mit 32 Jahren erhalten. Seitdem hat sich sein Leben stark verändert. Er hat den unbedingten Wunsch, das Positive aus seinem jetzigen Leben zu erzählen, da er nicht nur über seine Behinderung definiert werden möchte.
Er geht inzwischen in die Tagesstätte St. Georg in Gelsenkirchen, ist Redakteur in der Hauseigenen Zeitschrift „DruckArt“ und spielt mit Begeisterung Improtheater. Er fotografiert auch gerne.
Ich habe inzwischen auch ein Buch über ihn veröffentlicht (TIM – Ein Leben mit dem Fetalen Alkoholsndrom) . Ist es möglich, dass Sie mit uns Kontakt aufnehmen?
Viele Grüße
Monika Reidegeld
Guten Tag, Frau Reidegeld,
ich habe Ihren Kommentar an die Autorin weitergeleitet und Ihre Telefonnummer hier entfernt. Das ist hier nämlich ein öffentlicher Kommentar, für jeden lesbar. Ich kann ihn auch ganz entfernen, falls gewünscht.
Viele Grüße,
Ralf Clausen
Ich weiß erst seit letztem Herbst, das ich FASD habe. Eure Erfahrungen können mir vielleicht helfen für meine neue Zukunft. Danke