Die Münsteraner sind wahrlich geübt im Umgang mit dem, was eine Kampfmittelentschärfung mit sich bringt, doch was am 20. September auf die Bewohner des Mauritzviertels zukommt, stellt eine neue Dimension dar. Es gibt fünf Verdachtsfälle an drei unterschiedlichen Standorten, ein weiterer ursprünglicher Verdachtsfall hat sich bei der Sondierung nicht bestätigt. Voraussichtlich werden 16.000 Menschen betroffen sein, ein Krankenhaus und drei Altenpflegeeinrichtungen liegen im Evakuierungsbereich, mehrere wichtige Zufahrtsstraßen und eine Hauptbahnlinie sind betroffen, eine Mammutaufgabe für den Krisenstab unter der Leitung von Wolfgang Heuer.
„Wir hatten bislang drei Sitzungen des Krisenstabs, die Vorbereitungen laufen aber viele Wochen länger. Der Krisenstab hat die federführende Leitung bei der Evakuierung. Aktuell ist präzise bis auf die Hausnummer genau festgelegt, welche Häuser aus heutiger Sicht verlassen werden müssen. Das kann sich am 20. September aber noch ändern, und zwar in der Regel nach oben“, wie Heuer betont.
„Geplant ist der Einsatz mit rund 1.000 Einsatzkräften vom Kampfmittelbeseitigungsdienst, Hilfsorganisationen, Mitarbeitern des Ordnungsamts, der Stadtwerke sowie der Feuerwehr aus Münster und dem Umland. Außerdem Kräfte der Polizei“, berichtet Heuer mit Blick auf den Tag der Evakuierung. Deren Datum wurde nicht zufällig gewählt: „Ende Juli haben wir mit den Planungen begonnen, da waren die Coronazahlen relativ niedrig. Wir wollten die Aktion vor dem Herbst umsetzen, um vor einer eventuellen zweiten Welle zu liegen.“ Es hätte aber auch anders kommen können: „Es gab in diesem Jahr Kampfmittelbeseitigungen, die wegen Corona nicht stattgefunden haben. Insbesondere mit Blick auf die Evakuierung. Der Druck hier in Mauritz war jedoch so groß, dass wir uns im Krisenstab gesagt haben, dass wir uns im September in der Lage sehen, diese Evakuierung durchzuführen“, berichtet Heuer.
Der Sonntagstermin wurde gewählt, weil dann die meisten Menschen frei über ihre Zeit verfügen können, sodass ein Besuch bei Freunden oder ein Tag im Zoo eingeplant werden kann. Die an der Evakuierung Beteiligten werden allerdings von Freitag bis Sonntag unter Dauerstress stehen. „Für uns ist es also schlecht, für die betroffenen Münsteraner ist das eine gute Sache. Da der Kampfmittelbeseitigungsdienst bereit war, sonntags zu arbeiten, was er üblicherweise nicht macht, war es tatsächlich möglich, den 20. September festzulegen.“ Erfahrungsgemäß kommen nur etwa zehn bis 20 Prozent der Betroffenen in die Betreuungsstellen. „Das sind dann aber immer noch 2.000 bis 3.000 Münsteraner. Wir werden in den Betreuungsstellen selbstverständlich die Coronaschutzregeln einhalten.“
Im St. Franziskus-Hospital haben Gutachten ergeben, dass nicht das gesamte Gebäude geräumt werden muss. Die Experten gehen davon aus, dass weniger als 100 Patienten betroffen sein werden. Anders sieht das in den drei Altenpflegeeinrichtungen aus, die mit allen rund 300 Bewohnerinnen und Bewohnern komplett evakuiert werden müssen. Dies wird eine echte Herausforderung für alle Beteiligten: „Da muss man sich nichts vormachen, das wird Bürger beeinträchtigen und vielleicht auch psychisch in eine schwierige Situation bringen. Darauf mit Hilfs- und Betreuungsangeboten eingestellt zu sein, ist vielleicht noch wesentlicher als der Logistikaspekt“, vermutet der Leiter des Krisenstabs. Hier seien in erster Linie das Sozialamt und die Feuerwehr mit den Einrichtungen im Gespräch.
Auch wenn Heuer in den vergangenen acht Jahren schon mehrere Krisenstäbe aus unterschiedlichen Anlässen geleitet hat, merkt man ihm den Respekt vor dem 20. September an: „Das hat es meines Wissens in Münster nach dem Zweiten Weltkrieg nicht in dieser Größenordnung gegeben. Meine Sorge ist, dass Einzelne nicht erreicht werden im Vorfeld, Menschen die isoliert leben und vielleicht auch psychische Probleme haben. Hier appelliere ich an die Nachbarn dort zu klingeln, diese Menschen anzusprechen und darauf hinzuweisen, dass sie demnächst ihre Wohnung verlassen müssen und zu erklären, wo man gut versorgt den Tag verbringen kann. Ich kann mir auch vorstellen, dass der eine oder andere Angst hat vor diesem Tag. Wir müssen diesen Menschen, die etwas ängstlicher sind, entgegenkommen.“
Die aktuelle Pandemiesituation erschwert die Planungen zusätzlich: „Das ist ein weiterer schwerwiegender Faktor in dieser Situation. Aber wir glauben, dass wir in der Lage sind, die entsprechenden Schutzmaßnahmen umzusetzen. Ich habe aktuell keine Sorge, dass wir wegen Corona diese Aktion nicht gut über die Bühne bekommen. Dennoch ist dies eine Zusatzbelastung, die wir eigentlich nicht brauchen können.“ Für alles andere als selbstverständlich hält Heuer die Arbeit des Kampfmittelbeseitigungsteams: „Die Sorgen, die man immer haben muss, richten sich mehr auf die Entschärfung. Das halte ich für das größere Risiko für die Beteiligten, die hier die Sprengmittel freilegen und entschärfen müssen. Das ist das professionelle Risiko, das hier immer im Raum steht. Leider ist es in den letzten Jahren bei Entschärfungen von Kampfmitteln zu Todesfällen in Deutschland gekommen, sodass das kein einfacher Job ist, der da gemacht werden muss und meine Wahrnehmung konzentriert sich ehrlicherweise mehr auf die Kampfmittel als auf die Coronafrage.“ Es werden mehrere Teams der Kampfmittelbeseitigung gleichzeitig im Einsatz sein.
Der Verkehr wird im Evakuierungsbereich zum Erliegen kommen, das Ordnungsamt entwickelt daher aktuell Verkehrskonzept zur kompletten Umfahrung des Bereichs. Ein Problem ist auch die überregionale Bahnstrecke nach Bremen und Hamburg, die phasenweise unterbrochen werden muss. Gegenwärtig wird überprüft, ob es zu größeren Menschenansammlungen im Bahnhof kommen wird, die gegebenenfalls versorgt werden müssen.
Werden am Ende des Tages die Sektkorken knallen? „Die Frage stellt man sich manchmal vorher, was ist eigentlich am Tag danach, trifft man sich nochmal, bestätigt man sich, dass man die Dinge hoffentlich überwiegend richtig gemacht hat? Nein, da passiert nichts, das ist eine interessante Konstellation, dass solche Dinge abgearbeitet werden bis zur letzten Schraubendrehung und dann wird die Tür zugemacht und dann steht auch schon die nächste Frage vor der Tür. Wenn der Tag gut gelaufen ist und die letzten insbesondere Patienten und Heimbewohner sicher wieder angekommen sind, wenn alles gut gelungen ist, das ist ein Moment der Erleichterung. Es kann ja auch zu Unfällen kommen, die nur indirekt mit der Evakuierung zu tun haben, all das wünschen wir uns für einen solchen Tag nicht“, hofft Heuer und betont: „Ich glaube, dass wir in der Lage sind, den Job gut zu machen!“
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