An dieser Stelle zeigen sich einmal im Monat starke Persönlichkeiten, deren Einschränkungen der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt sind. Kinder, die während der Schwangerschaft schwerem Alkoholkonsum ausgesetzt sind, können untergewichtig, mit auffällig kleinem Kopf und einer speziellen Physiognomie zur Welt kommen. Wenn äußere Zeichen sichtbar und eine Suchterkrankung der Mutter bekannt sind, wird das Fetale Alkoholsyndrom (FAS) leicht diagnostizierbar. Manche Mütter konsumieren aufgrund einer Suchterkrankung oder weil sie sich der Schwangerschaft nicht bewusst sind.
Auch wenn ihre Babys vermeintlich gesund zur Welt kommen, können sie während des Heranwachsens die typischen Auffälligkeiten eines Fetalen Alkoholsyndroms oder der sogenannten Alkoholspektrumstörung (FASD) zeigen. Ihre Symptome werden oft mit anderen Syndromen wie ADHS oder psychischen Erkrankungen verwechselt. Häufig werden die Auffälligkeiten der Kinder als Resultat mangelhafter Erziehung eingeordnet. Der Weg zu passgenauen Hilfen ist oft lang, leidvoll und von vielen Rückschlägen geprägt.
Fotografin Ingrid Hagenhenrich hat einen unvergleichlich liebevollen Blick auf die Menschen vor ihrer Kamera. Sie nimmt sich Zeit, jede spezielle Persönlichkeit zu portraitieren. Iris Brandewiede gibt ihren Worten Raum. In der neunten Folge der Serie treffen wir den 25-jährigen Kevin aus Havixbeck.
*****
Hier sieht man mich an meiner Arbeitsstelle. Ich habe früher in Halle / Westfalen gewohnt. Danach habe ich mit meiner gesetzlichen Betreuerin eine WG angeschaut und die große Einrichtung Stift Tilbeck. Tilbeck ist näher an meinen Pflegeeltern dran, und ich fand es auch schöner. Seit sechs Jahren bin ich hier, und seit zwei Jahren in der Gartentruppe. Vorher war ich in der Schlosserei und Verpackung. Ich arbeite noch nicht auf dem ersten Arbeitsmarkt – aber das ist ein kleines Ziel von mir.
Morgens um halb acht werden meine Kollegen und ich zu zwei Truppen eingeteilt. Die Gemüsetruppe arbeitet in den drei Gewächshäusern, die wir haben, zum Beispiel mit Zucchini, Salat, Tomaten…. Die andere Truppe ist zuständig für das ganze Gelände. Dazu gehört der Friedhof, der ganze Rückschnitt, zum Beispiel Weidenschnitt. Damit fangen wir im Januar schon wieder an. Momentan sind wir viel mit dem Laub beschäftigt. Ich habe dann ein Laubgebläse auf dem Rücken und puste das Laub zusammen, andere fahren mit dem Radlader hinterher und laden das auf.
Ich stehe in der Scheune an meinem Arbeitsplatz. Hier steht der Johnny, das ist ein John Deere Trecker. Es gibt noch einen größeren, einen Fiat. Die darf man nur fahren, wenn man einen Führerschein hat. Ich will gern den Führerschein machen in näherer Zukunft.
Mir macht die Arbeit schon sehr Spaß, dieses Draußensein. Ich brauche die frische Luft. Nicht die ganze Zeit rumhocken. Ich habe überhaupt kein Problem mit der Kälte. Einmal war ich zu dünn angezogen und habe mich doch erkältet, aber das war nicht schlimm. Ich kann ein paar Stunden ein Laubgebläse auf dem Rücken haben. Ich schleppe meine Werkzeuge quer über das Gelände und finde körperlich harte Arbeit überhaupt nicht schwer. Ab und an gibt es Tage, zum Beispiel wenn ich schlecht geschlafen habe oder mal einen Keinen-Bock-Tag, dann frage ich, ob ich an dem Tag alleine arbeiten kann, oder sage, dass ich eine Pause brauche. Meistens kann ich dann eine Runde drehen, wenn wir keinen Zeitdruck haben.
Hier ist die Garage, wo das Stielwerkzeug drin ist. Rechen, Besen, Gräpe, Schaufeln…. Wenn die Kolonne Laub auflädt, brauchen wir den Radlader und das Stielwerkzeug. Wir fahren auf dem Gelände von Standort zu Standort und laden das Laub auf. Wir brauchen das Stielwerkzeug eigentlich immer, ob im Gewächshaus oder auf dem Gelände, auch auf dem Friedhof, zum Beispiel wenn wir den Heckenschnitt machen.
Ich habe meine Arbeitsklamotten an: Grüne Arbeitskleidung von Engelbert Strauss, Sicherheitsschuhe, eine Bundhose, Pulli und Jacke. Die halten warm und haben viele Taschen für Arbeitswerkzeug. An der Hose ist ein Gürtel, zum Beispiel für mein Messer und die Rosenschere. Ich habe immer einen Zollstock dabei, man weiß nie, ob man was ausmessen muss. Wir legen zum Beispiel Vliess auf die Erde, da kommen Löcher rein, in die die Pflanzen kommen. Dazu muss ich ausmessen, wie breit das sein muss, zum Beispiel für die Gänge, damit wir zwischen den Beeten laufen können.
Hier bin ich im großen Gewächshaus beim Gemüse. Zweimal am Tag muss ich es gießen, damit es genug Wasser hat zum Wachsen. Die Fenster müssen geöffnet werden, damit die Pflanzen frische Luft bekommen. Wenn der Chef sagt, mach das mal bitte, dann wird das gemacht. Ich mache echt gut mit. Nur ab und zu habe ich mal keinen Bock was zu machen. Hier in Tilbeck nennen wir uns einfach „die Gartentruppe“, weil das hier kein erster Arbeitsmarkt ist. Der zweite Arbeitsmarkt ist für Menschen, die in der Werkstatt für Behinderte arbeiten. Ich verfolge zurzeit ein kleines Ziel: erster Arbeitsmarkt.
Meine Chefs wissen von meiner Idee für den ersten Arbeitsmarkt. Sie haben für mich einen Hilfeplan erstellt. Wenn ich den erfülle, schaue ich mich nach einem Praktikumsplatz um. Ich habe schon eine Idee für eine Firma, die Ga-La-Bau macht, also Garten- und Landschaftsbau. Die machen alles Mögliche: Zäune, Garten und was dazu gehört. Mit dem Integrationsassistenten zusammen mache ich dann Termine und bewerbe mich. Wir wollen bis Mitte nächsten Jahres so weit sein. Zuerst möchte ich einen ausgelagerten Arbeitsplatz erreichen. Wenn das gut klappt, könnte ich dort eine Ausbildung machen. Erstmal möchte ich aber mein Praktikum dort machen. Das wird eine Herausforderung, weil der Arbeitsweg dann anders ist. Jetzt werde ich mit dem Bulli nach Tilbeck abgeholt, dann müsste ich mit dem Linienbus dort hinfahren. Das wird eine Umstellung, aber das traue ich mir zu.
Ich finde, dass die Leute, die FAS haben, sich nicht verstecken sollen. Für mich war es Gewöhnungssache, dass man anders ist. Als ich ungefähr 15 war, sind meine Pflegeeltern auf mich zugekommen und haben mir gesagt, was abgeht, auch dass ich FAS habe. Damals hatte ich Probleme, dass ich so aggressiv war und mich auch kaum konzentrieren konnte. Da bin ich ziemlich schnell aus der Haut gefahren. Ich bin von der Gesamtschule auf eine Förderschule gekommen. Mein Traum war es immer, Polizist zu werden, aber dafür braucht man ja Abi. Ich wusste aber, dass ich in der Schule nicht mitkam. Und meine Pflegeschwester hat kein FAS, die hat alles hingekriegt. Wenn man überlegt, wie ich damals war und wie ich jetzt alles hinkriege, dann ist das echt eine Steigerung.
Meine leibliche Mutter wusste nicht, dass sie mit mir schwanger war. Beide Eltern haben viel getrunken. Mein zehn Jahre älterer Bruder hat wie ein Elternteil auf mich aufgepasst. Mit drei bin ich ins Kinderheim gekommen und kurz vor meinem siebten Geburtstag in die Pflegefamilie, die immer noch meine Familie ist. Mein Bruder hat mich weiterhin besucht. Er hat jetzt seine eigene Familie und Kinder. Mein Traum wäre, nach einer guten Ausbildung eine feste Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt. Ich hänge mich viel in meine Arbeit.
Alle Teile unserer FASD-Reihe gibt es hier: https://www.allesmuenster.de/tag/fasd/
Homepage von Ingrid Hagenhenrich: https://ingrid-hagenhenrich.com/ Hintergrund-Informationen über das FASD gibt es u.a. hier: Biographie einer jungen Frau mit dem FASD: https://agenda-verlag.de/produkt/selina-spetter-ich-lasse-mich-nicht-unterkriegen-solange-worte-meine-wut-besiegen/ Biographie: Tim – ein Leben mit dem fetalen Alkoholsyndrom: https://shop.editionblaes.de/produkt/tim-ein-leben-mit-dem-fetalen-alkoholsyndrom/ „Chaos im Kopf“ – dein FASD Podcast: https://www.chaosimkopf.info/
- „Menschen mit Behinderung die Tür öffnen“ In der 12. und letzten Folge unserer Serie „Herzensangelegenheiten“ treffen wir die 26-jährige Maike Meuthen aus Telgte, die heute an der südlichen Weinstraße lebt - 8. Dezember 2024
- „Traut behinderten Menschen mehr zu“ In der 11. Folge unserer Serie „Herzensangelegenheiten“ treffen wir den 29-jährigen Welat aus Münster - 10. November 2024
- „Ich hab mein Hobby zum Beruf gemacht“ In der 10. Folge unserer Serie „Herzensangelegenheiten“ treffen wir den 19-jährigen Navid aus Sendenhorst - 6. Oktober 2024