Generationen ganzer Schulklassen hatten sich mit dem Stoff beschäftigt – und so war es auch nur konsequent, dass an dem zweiten Aufführungsabend vergangenen Mittwoch zahlreiche Studienräte ihr Herz für den Theaterbesuch entdeckt hatten und auch ihre Oberstufenkurse in die mitreißende Vorstellung schleppten.
Julius Janosch Schulte glänzt in seiner Rolle als Macheath, besser bekannt als „Mackie Messer“, genauso stark wie sein glitzernder Paillettenanzug. Im rauen Londoner Vergnügungsviertel Soho überlebt der hedonistisch-windige und charismatisch-skrupellose Gangster zwischen rivalisierenden Banden, seinen Besuchen in Freudenhäusern und korrupten Beamten. Er stürzt erst dann ab, als er überraschend Polly Peachum, die Tochter des Bettlerkönigs, gegen den Willen des Brautvaters heiratet und durch das Festhalten an seinen schlechten Gewohnheiten angreifbar für den Unterweltrivalen wird.
Die Liebesgeschichte mit der naiven Polly, verkörpert von Elzemarieke de Vos, wird facettenreich erzählt. Wir erleben, wie ihre Augen geöffnet werden und sie überraschend auf ihre Nebenbuhlerin, gespielt von Rose Lohmann, trifft. Die Eifersuchtsszenen zwischen den beiden Damen schlagen Funken, die Darstellerinnen spielen anrührend und betonten die Vielschichtigkeit ihrer Charaktere. Auch die anderen Figuren des Stückes werden überzeugend mit Leben erfüllt.
Herausfordernd sind die zahlreichen Musikstücke, die die Dreigroschenoper zu einem Solitär bei den Schauspielen macht. Die populäre und damals zeitgenössische Musik von Kurt Weill vereint Elemente des Jazz, des Cabaret und avantgardistische Passagen. Die Dreigroschenoper wurde 1928 in Berlin uraufgeführt, schon die Premierengäste erkannten auf der Bühne weniger das Londoner Viertel, sondern ihre eigene Stadt. Gebeutelt vom Krieg, beherrscht von Gaunern und Dieben und strahlend im Glanz einer gewissen Käuflichkeit.
Die Gesangseinlagen bewältigt das Ensemble am Theater Münster mit Bravour. Weniger die technische Sauberkeit überzeugt, sondern wie sie die Stimmung beseelt vermitteln. Dazu gehört auch die Mischung aus Berliner Kodderschnauze und die um sich selbst kreisende weltstädtische Schnoddrigkeit. Passend dazu tragen die Schauspieler schrille Kostüme im Stile einer etwas gedämpfteren Rocky Horror Show. Sie sind auffällig, gewagt, und spiegeln häufig den exzentrischen Stil der Charaktere wider.
Das Stück wurde behutsam modernisiert. Regisseur Sebastian Schug bleibt dabei größtenteils der Vorlage treu, integriert jedoch eigene starke Akzente in die Inszenierung. Dabei orientiert er sich weniger am Anspruch eines epischen Musiktheaters, sondern setzt auf die Strahlkraft der einzelnen Gesangsnummern und die Bekanntheit von Aussprüchen, die es in den Sprichwortschatz mehrerer Generationen geschafft haben. Trotzdem wird die Handlung gut zusammengehalten. Die Figuren agieren authentisch, wobei deren Motivlagen stimmig und nachvollziehbar bleiben.
Als gelungene kapitalismus- und gesellschaftskritische Klammer ist der Schriftzug „L´amour Inc.“ angebracht, der wie eine Senderkennung im Fernsehprogramm den ganzen Abend über der Bühne schwebt. Dabei wird die gleiche Type wie bei dem weltweit bekannten Coca-Cola Schriftzug genutzt, der sich zu einem ikonischen Markenzeichen entwickelt hat. Diese Schrift wirkt so vertraut und zeitgemäß, war aber schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts populär. Also zu der Zeit, in der die Handlung spielt.
Das teilweise schlicht und billig wirkende Bühnenbild setzt präzise Akzente und betont die zeitlosen Inhalte des Stückes. Schon bei der Uraufführung war es anachronistisch angelegt, da die Handlung während der Krönung der britischen Monarchin Victoria 1837 spielt, aber um Elemente der industrialisierten Welt der Weimarer Zeit ergänzt wurde. Da ist es nur folgerichtig, wenn jetzt das Diebesgut auf einem LKW platziert wird.
Herrlich überdreht ist der opulente Abschluss. Bereits Brechts Idee liest sich in dem Textbuch als Geniestreich. Mit ihm parodiert er die plötzlichen Wendungen, die aus den Nichts auftauchen und mit denen oftmals Operetten enden. Hier wird weiter ausgeschmückt und extrem ausgekostet, wenn – nach quälend länger werdender Kunstpause – endlich der Bettlerkönig Peachum selbst die Erlösung Macheath, alias „Mackie Messer“, ankündigt, die auf der Bühne förmlich zelebriert wird.
Was Christopher Nolans Filme als Repräsentation des Intellektuellen im Mainstreamkino sind, ist die Dreigroschenoper von Bert Brecht und Kurt Weill als eines der meistgespielten Stücke des Deutschen Stadttheaters: Eine sichere Bank, die auch in der Aufführung am Theater Münster nicht verspielt wurde! Diese Aufführung begeistert viele Zuschauer eher wegen des schauspielerischen oder musikalischen Spektakels, das durch Effekte oder eingängige Gesangsstücke fasziniert, während die tiefergehenden Inhalte scheinbar deutlich weniger beachtet werden. Auch wenn sich das Publikum als Gemeinschaft von Musicalfans herausstellt, überzeugt der Unterhaltungswert der Inszenierung auf allen Ebenen. Die Zuschauer werden förmlich in das Geschehen hineingezogen.
Wohl dem, der noch Restkarten für die Silvestervorstellung ergattern kann! Diese Inszenierung entpuppt sich als eine mehr als würdige Alternative zu leichtfüßigen bis frivolen Operettenaufführung wie „Die Fledermaus“, mit der auch schon mal in Münsters Theater für den Jahreswechsel vorgeglüht wurde. Hier kann man neben dem vergnüglichen Abend auch eine Prise Sozialkritik mit ins neue Jahr nehmen.
Applausometer: Bereits während der Vorstellung schlug es nach vielen Liedern mehrfach kräftig aus. Der abschließende rhythmische Beifall war lang anhaltend, geradezu enthusiastisch synkopiert und wurde durch johlendes Pfeifen verstärkt.
Das Stück wird bis zum 20. April 2024 im Großen Haus des Theaters Münsters in dieser Spielzeit aufgeführt. Die kommenden Vorstellungen sind für den 16., 20. und 31. Dezember 2023 geplant, jeweils um 19:30 Uhr, mit einer zusätzlichen Aufführung am 31. Dezember um 14:30 Uhr. Mehr Infos und den Weg zu den Tickets findet ihr unter www.theater-muenster.com.
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