Seit zwei Jahren tutet Martje Saljé (fast) jeden Abend vom Turm der Lambertikirche. Wir haben sie an einem kalten Januarabend in ihrer Turmstube besucht, sie bei ihrer Arbeit beobachtet und ein wenig nach ihrem Alltag als „höchste Bedienstete“ der Stadt befragt. Die erste Hälfte unseres Interviews habt ihr letztes Wochenende bei ALLES MÜNSTER gelesen. Hier ist Teil 2.
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ALLES MÜNSTER: Das Tuten zur halben Stunde klingt irgendwie anders. Was ist das Besondere daran?
Martje Saljé: Das Halb-Tuten ist etwas für die Nostalgiker. Das Mundstück wurde nämlich ausgewechselt, weil es verrostet und verbeult war. Das neue Mundstück klingt jetzt aber ein bisschen anders. Früher hat es eher so ein bisschen nach Entenjagd geklungen, jetzt klingt es schön und hat eine lange Amplitude und wirkt subjektiv lauter. Aber nach einem WDR-Beitrag zu dem neuen Mundstück haben sich einige Münsteraner gemeldet, dass sie das alte Schnarren vermissen. Da hab ich mir gedacht: Das alte Schnarren könnt ihr haben. Immer um halb schnarrt’s jetzt.
Wir folgen ihr nach draußen und hören diesen schnarrenden Ton, den sie mit einem kräftigen Vibrato erzeugt. Und dann sehen wir tatsächlich, wie sie sich nach dem Tuten ein wenig über die Mauer lehnt!
Du lehnst dich wirklich hier rüber, um zu sehen, ob da jemand zurückruft?
Ja, die Menschen lieben das! Manchmal sind hier Nachtwächter-Führungen, die machen ihre Leute darauf aufmerksam, dass gleich was kommt. Und dann kommt das Geräusch und dann wollen die Besucher ja auch sehen, dass es keine Maschine ist. Außerdem ist die Kirche noch bis halb elf von außen beleuchtet. Ich lehne mich dann in den Lichtkegel, damit man mich von unten gut sehen kann.
Ist schon jemand auf die Idee gekommen, dich für so eine Stadtführung zu buchen? Das wäre ja eine Aufgabe, die du auch tagsüber ausfüllen kannst…
Nicht wirklich. Es gibt eine „Führung mit der Türmerin“ von der Stadt-Lupe. Das bin aber nicht ich, sondern verschiedene Gästeführerinnen, die ein bestimmtes Skript haben und so eine kleine Geschichte erzählen. Die spielen dann auch nicht die Türmerin, sondern die Frau eines Türmers. Die erzählt dann ganz anschaulich, wie sie ihren Mann sucht, der verschütt gegangen ist. Das ist eine fiktive Rolle, eine Figur aus dem 17. Jahrhundert, damals gab es ja noch gar keine Frauen als Türmer. Früher sagte man ja auch „Frau Doktor“ wenn man die Frau vom Doktor meinte, so ist das mit unserer Türmerin als Gästeführerin auch. Ich hoffe einfach, dass den Gästen der Stadt, die diese Führung mitmachen, klar ist, dass es nicht die Türmerin von heute ist!
Ich mach sowas nicht, ich bin tagsüber anders eingespannt: ich bin Ansprechpartnerin für die internationalen Medien. Ich halte auch tagsüber mal ein Interview ab oder stehe für eine Fototermin zur Verfügung. Oder ich halte mal einen Vortrag, aber nur ab und zu – das sind ja Überstunden und das Wichtigste ist eben der Präsenzdienst abends auf dem Turm. Dabei geht es weniger um meine Person, sondern um das Amt, das durch viele Generationen von Türmern geprägt worden ist. Das ist wirklich komplexer als man glauben mag. Ich bin im Laufe meiner Recherchen auf viele interessante Dinge gestoßen. Es wird ja vor allem da spannend, wo sich einer daneben benimmt. Das ist ein paar Mal passiert, und dann gibt es Strafprotokolle. Wenn einer nur brav seinen Dienst versieht, wird auch nichts beschrieben…
Dann gibt es auch keine Akten, so ist es in der Geschichte nun mal.
Sowas interessiert auch die Leute. Deswegen bin ich ganz gut aufgestellt, wenn ich das auch machen darf, tagsüber, das freut mich sehr.
Von deinen Amtsvorgängern aus früheren Jahrhunderten hast du auf jeden Fall das Instrument, das Horn, geerbt. Wie alt ist es denn eigentlich?
Das Horn sieht so alt aus, es wurde aber extra so historisierend auf alt gemacht. Der Job ist urkundlich existent seit 1383, aber das Horn stammt von 1950. Das alte Horn, das es vorher gab, ist im Zweiten Weltkrieg verloren gegangen. Oder geklaut oder eingeschmolzen worden – so genau weiß man das gar nicht. Als 1942 der alte Türmer eines natürlichen Todes gestorben ist, hat man den Posten nicht neu besetzt. Die großen Bombenangriffe auf Münster kamen ja erst später, ab 1944 stand kein Stein mehr auf dem anderen. Als hier 1950 alles im Wiederaufbau war und der Prinzipalmarkt furchtbar aussah – da stand hier noch nichts – da war eines der ersten Ämter, das neu besetzt wurde, der Türmerposten. Weil die Stadtväter sagten: wir brauchen die Tradition, wir brauchen die Kontinuität. Das ist auch ein Symbol dafür, dass es weitergeht. Das stammt aus alten Zeiten, das hält uns zusammen.
Das passt zur Haltung von Münster in dieser Zeit: das historische Rathaus und den Prinzipalmarkt im Prinzip so wie vorher aufzubauen…
Ja, der Kiepenkerl ist sogar stehen geblieben. Dann braucht man den Türmer auch dort oben als Instanz, die über die Stadt wacht. Es gab damals ein großes Fest, mit Musik und Tanz und mit Gedichten, und damit wurde der Türmer hier wieder eingeführt. Dem zu Ehren ist also dieses Horn eingeführt worden. Der Kollege hieß Karl Greuling, er war bis 1958 im Dienst. In einem wunderschönen Nachruf ist über ihn zu lesen, wie er hier oben Zither gespielt und Gedichte geschrieben hat. Er hat seine eigenen Gedichte auch vertont und gesungen, mit Zitherbegleitung. Beim Lesen hab ich gedacht: diese Türmerseele, das ist etwas, das uns über die Jahrhunderte eint. Auch vorher gab es nämlich Türmer, die musikalisch waren, die Stadtpfeifer waren, die Gedichte oder Geschichten geschrieben haben. Immer wieder kommt so etwas vor, das ist das verbindende Element. Ich mach sowas hier ja auch. Irgendwie muss man dafür wohl ein musisches Gen haben…
Solche Dinge hast du also in deinen ersten zwei Jahren als Türmerin herausgefunden. Wahrscheinlich gibt es darüber keine wissenschaftlichen Arbeiten, du versuchst es selber im Archiv herauszufinden?
Ja, das ist wirklich verblüffend. Es gibt hier die Universitätsbibliothek, es gibt das Stadtarchiv, das Staatsarchiv, das Bistumsarchiv, das Stadtmuseum, die volkskundliche Kommission beim LWL – lauter Bruchstücke von Informationen über den Türmer und den Turm sind überall verteilt zu finden. Dass es noch keiner zusammengetragen hat, ist ein kleines Wunder. Das betrachte ich ein bisschen als meine Aufgabe. Vielleicht wird es einmal ein Türmerbuch geben, wo ich es alles zusammenfasse. Das ist aber Zukunftsmusik, es ist eher ein Traum von mir, das zu machen.
Das wäre es doch wert. Und die Qualifikation bringst du doch auch mit.
Das Thema gibt es auf jeden Fall her, schaun wir mal. Es ist ein Desiderat…
Du wirst ja noch ein paar Jahre hier verbringen, ich geh jedenfalls davon aus.
Die nächsten hundert Jahre bin ich hier, da hab ich noch Zeit…
Was sagt den das öffentliche Tarifrecht dazu? Obwohl: dein Vorgänger ist ja auch ein bisschen länger hier geblieben, über das übliche Rentenalter hinaus…
Ja, Wolfram Schulze hat zwei oder drei Mal verlängert. Es war sicher schade für ihn, dass es nicht ein weiteres Mal ging. Aber es war gut für mich. Und wenn ich soweit bin – ein büsch’n hab ich ja noch Zeit – dann haben sich die Rentengesetze sicher wieder geändert. Ich lass es auf mich zukommen. Jetzt möchte ich es so lange machen, wie es geht.
Bei dir ist das Rentenalter ja noch weit entfernt. Die Stadt hat sicher gezielt jemand Jüngeres eingestellt. Ich weiß allerdings auch nicht, wie alt deine Vorgänger waren, als sie anfingen.
Alle etwas älter, lustigerweise. Die hatten oft einen kruden, interessanten Lebenslauf und mal dies, mal das gemacht. Ich hab das in jüngerer Zeit schon getan. Einen krummen Lebensweg braucht man als Türmer auf jeden Fall – ich hab das eben etwas schneller abgehandelt.
Du hast auch auf Mittelaltermärkten gearbeitet?
Ja, Historytainment hab ich auch gemacht – aber das ist hier ja auch Historytainment.
Hast du deinen Umhang von dort? Oder hast du ihn wie das Horn von deinen Vorgängern geerbt?
Es gab vorher schon einen, den hatte mein Vorgänger aus dem Theaterfundus bekommen. Dieser hier ist mir aber auf den Leib geschneidert worden, von einer wunderbaren Schneidermeisterin aus Sudmühle. Es ist ein Wendeumhang, in Salz- und Pfeffer-Optik auf der einen Seite. Die krisselt aber auf Fotos, hab ich festgestellt. Deswegen hab ich den heute umgedreht, auf die blaue Seite. Es hat eine Pelerine, die ich im Sommer abnehmen kann, die im Winter aber gut ist, um die Schultern zu wärmen. Dann hat sie noch eine Kapuze – die ist bei Wind und Wetter sehr sinnvoll. Auf dem Historischen Markt in Bad Essen gab es eine Modenschau, da hab ich den Umhang mal vorgeführt.
Zurück zu deinem Horn: welchen Ton hören wir da überhaupt?
Ich hab leider nicht das absolute Gehör. Es war mal ein Des, oder ein Cis, je nachdem, von welcher Seite man es sieht. Mittlerweile hat es sich ein bisschen geändert, weil es etwas klarer ist, es hat ein anderes Schwingungsverhältnis und etwas andere Obertöne erhalten.
Durch das neue Mundstück?
Ja, durch das neue Mundstück. Aber es ist immer noch in dem Bereich C, Cis, irgendwas in der Richtung…
Vielleicht spielt auch noch die Wetterlage eine Rolle?
Vor allem Luftfeuchtigkeit verändert den Ton – da hab ich sogar mal einen Aufsatz drüber geschrieben. Also über die Auswirkung von Luftfeuchtigkeit auf Turmblasinstrumente – das ist absolutes Nischenwissen. In Physik war ich nämlich auch nicht so schlecht…
Der Wecker klingelt. Es ist wieder soweit, Martje muss die warme Turmstube verlassen und hinaus zum Tuten.
Kurze Ansage, Leute: wisst Ihr, was um elf Uhr passiert? Nein?
Du tutest anders?
Ja. Ich tute nicht irgendwie, da hat man sich damals was dabei gedacht. Es beginnt immer in Dreiergruppen, da denke ich jedesmal an Vater, Sohn und den Heiligen Geist. Um elf Uhr gibt es nach dreimal Dreifaltigkeit noch eine Zweiergruppe. Da ist dann das Verhältnis das Landes Ägypten zum Land Kanaan dran – kann man alles im Internet nachlesen…
Mit diesen Worten betritt Martje Saljé die Balustrade auf dem Lambertikirchturm und lässt ihr Horn erklingen. Erst jetzt fällt uns auf, dass sie es in einem bestimmten Rhythmus tut: dreimal Tuten, kurze Pause, dreimal Tuten, kurze Pause, dreimal Tuten, kurze Pause, zweimal Tuten. Und jetzt wissen wir auch, woran sie dabei zu denken hat. Oder hat sie uns etwa einen Bären aufgebunden? Das werden wir sie bei der nächsten Gelegenheit fragen, unsere Zeit zum Abstieg ist gekommen. Nach dreihundert Stufen erreichen wir wieder den festen Boden des Prinzipalmarkts, ein wenig neidisch auf unsere Türmerin und ihren luftigen Job.
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