An dieser Stelle treten in einer zweiten Staffel unserer Empowerment-Serie monatlich junge Erwachsene auf die Bühne. Sie verfolgen ihre Herzensangelegenheiten, überwinden Barrieren mit Mut und Konsequenz – und manchmal mit pfiffigen Alltagshilfen, deren Erfindung puren Segen bedeutet. Fotografin Ingrid Hagenhenrich hat einen unvergleichlich liebevollen Blick auf die Menschen vor ihrer Kamera. Sie nimmt sich Zeit, jede Persönlichkeit auf eigene Art zu portraitieren. Iris Brandewiede gibt ihren Worten Raum. In der vierten Folge treffen wir die 20-jährige Navith aus Frankfurt.
*****
Wenn ich an mich selbst denke, fällt mir als erstes mein Lachen ein. Ich bin fast immer fröhlich und gut gelaunt. In meiner Familie haben wir immer von meiner „kleinen Hand“ gesprochen, das hat mein Bruder so benannt. Die rechte Hand ist nämlich kleiner als die Linke. Ich selbst hatte gar nicht das Gefühl, dass die rechte Körperseite nicht richtig funktioniert, ich habe es eher so empfunden: „Ich bin Linkshänderin, deshalb brauche ich eine andere Schere.“
Erst in der dritten Klasse habe ich meine Mutter gefragt: „Bin ich eigentlich behindert?“ Vorher war mir das gar nicht so bewusst: Da hat sie gesagt: „Manche Menschen nennen das so.“ Beim Kennenlernabend der fünften Klasse habe ich gesagt: „Damit ihr das wisst, ich kann meine rechte Seite nicht so benutzen“. Und dann war das durch. Viele fanden das mutig, ich fand es das Einfachste. Eine Physiotherapeutin hat mir mal erklärt: „Neurologische Einschränkungen wie deine bezeichnet man als Palliativ-Behandlung, weil sich an der Ursache der Lähmung nichts ändern lässt.“ Ich war sehr überrascht – es entwickelt sich doch immer etwas! Manche mögen sagen, ich bin behindert, aber ich bin nicht eingeschränkt – ich mache meine Sachen trotzdem: Schuhe schnüren, den Führerschein, studieren – ich kann ja alles machen! Für mich ist eigentlich die Frage: Was ist Behinderung?
Ja, ich werde behindert, manche Sachen zu machen. Aber ich finde meinen eigenen Weg – und dann ist das auch okay. Ich reduziere mich nicht auf die Einschränkung. Ich kann zum Beispiel keinen Radschlag machen. Also habe ich von Anfang an den einhändigen Radschlag geübt – kann ja auch nicht jeder. Die meisten bemerken erst, wenn sie mich schon eine Weile kennen, dass ich die rechte Seite nicht aktiv benutzen kann. Wenn Behinderung als Beleidigung benutzt wird, dann trifft mich das schon, auch wenn es häufig heißt, dass es „nicht so gemeint war“ und dann sage ich: „Hey, damit beleidigst du mich gerade auch.“ Aber sonst nehme ich es mit Humor. Wenn meine Freunde zum Beispiel fordern „Komm, Navith, gib High Five!“, sage ich „Du kriegst gleich nen rechten Haken“, und damit ist es gut.
Ich nehme es als Kompliment, wenn Leute meine Einschränkung anfangs gar nicht bemerken, weil sie sich auf andere Dinge von mir konzentrieren. Jetzt im Studium lerne ich wieder viele neue Leute kennen. Wenn ich gefragt werde, was typisch für mich ist, fällt mir vieles ein, aber nicht meine kleine Hand. Daran denke ich erst wieder, wenn neue Leute mich fragen: „Wie machst du das eigentlich mit dem Schnürsenkel binden?“ Dann mache ich es ihnen einfach vor: Ich lege mit links eine Schlaufe und halte sie mit dem rechten Zeigefinger zur Seite. Dann lege ich eine zweite Schlaufe drumherum, und ziehe sie fest – alles mit Links. Wenn sie probieren, es nachzumachen stellt sich raus: Im einhändigen Schnürsenkel binden bin ich die Schnellste von allen! Diese Methode habe ich zur weiterführenden Schule selbst ausgetüftelt. Klettverschlüsse an Schuhen fand ich echt schlimm. Schnürsenkel Schuhe waren einfach so viel cooler – das war meine Motivation.
Ich habe mich nie als „nicht normal“ identifiziert. Und wenn ich gefragt werde: „Was würdest du gerne an dir ändern?“, fällt mir niemals meine rechte Seite ein. – Da wünsche ich mir eher, dass ich weniger trockene Haare hätte! Einer meiner Freunde hat sich vor kurzem das Handgelenk gebrochen und meinte danach: „Ich habe jetzt erst gemerkt, wie krass das für dich immer sein muss – Schuhe anziehen und so.“ Bei solchen Bemerkungen fällt mir immer wieder auf, dass ich es nicht anders kenne und mir die Dinge einfach so beibringe, wie ich es machen kann und nehme es deshalb nicht als Hürde wahr.
Diesen Sprung zu machen, habe ich so lange geübt! Tänzerinnen sind ständig dabei, neue Bewegungsabläufe einzuüben. Bei mir war das auch so. Ich tanze, seit ich klein bin. Es gibt Tanzvideos von mir als Kleinkind, da wackle ich im Takt der Musik von Shakira mit den Hüften und dem Po – und der Rest geht einfach mit. Mit drei Jahren bin ich in die Tanzschule „Tanzraum“ von Ruth und Uli Trautmann gegangen. Das Konzept ist integrativ, der Stil ist ein bisschen an Pina Bausch angelehnt. Es gibt in dem Tanzraum keine Spiegel, damit man sich nicht vergleicht. Bei uns hieß es immer: „Nach drei Takten einmal durchwechseln.“ Oft durfte ich vorne in der ersten Reihe tanzen. Das Motto der Tanzschule ist „Jeder kann tanzen!“ Es wurde viel improvisiert: Du kannst nix falsch machen – du tanzt einfach!
Wir haben oft Tanz-Duette entwickelt, wo wir unsere Bewegungsabläufe aufeinander abgestimmt haben. Wenn wir eine Drehung gemacht haben, musste man für den Tänzergriff eben bei mir das Handgelenk von oben anfassen. Oder in den Choreos haben alle die Bewegung wie ich mit links gemacht. Ich tanze immer noch sehr gern und sehr viel. Auf Reisen, wenn es Straßenmusik gibt, egal welche Musik irgendwo läuft, ich kann mich dazu bewegen. Auch im Club mit meinen Freunden tanzen wir einfach verrückt. Tanzen macht so frei – es ist etwas fast Schwereloses. Beim Tanzen fühle ich meinen kompletten Körper – und spüre meine komplette Lebenslust!
Die Frage ist für mich nie, ob, sondern, wie ich etwas machen kann. – Ich ziehe einfach nicht in Erwägung, dass ich etwas nicht machen kann. Meinen Führerschein wollte ich gerne beim selben Fahrlehrer wie mein Bruder machen, beim Alphateam im Gievenbeck. Eigentlich ist es keine Fahrschule, die besonders auf Einschränkungen spezialisiert ist, aber ich habe einfach dort gefragt. Es war cool – der Fahrlehrer war gleich begeistert und hat gesagt: „Ja klar machen wir das zusammen.“ Er hat das Pedal manuell auf links umgebaut und einen Knauf am Lenkrad angebracht. Das Witzige: Mein Fahrlehrer selbst konnte damit nicht fahren. Er hat es versucht und meinte: „Navith, ich bewundere dich dafür, dass du so fahren kannst!“
Unser privates Auto haben wir genauso umgebaut: Beim Automatikauto ist normalerweise rechts das Gaspedal und in der Mitte eine Bremse. Mein Gaspedal wurde zusätzlich links eingebaut. Wenn der kleine Knopf links neben dem Lenkrad leuchtet, ist mein Gaspedal aktiviert. Per Knopfdruck kann man auf das rechte Pedal umstellen, sodass mein Bruder und meine Mutter oder im Urlaub meine Freunde das Auto auch fahren können. Mit dem Knauf am Lenkrad habe ich eine größere Hebelkraft fürs Lenken. Mit dem Bedienelement kann ich blinken, hupen, den Scheibenwischer und das Licht bedienen.
Vor Beginn der Fahrschule musste ich aber erst noch einem Gutachter unter Beweis stellen, dass ich alles bedienen kann – bis hin zum einhändigen Ankuppeln eines Anhängers. Im Prinzip habe ich also schon vor der Theorie eine komplette Fahrprüfung ablegen müssen, was natürlich zusätzlich Zeit und Geld gekostet hat. Für meinen Fahrlehrer und mich war die Hauptsache: Wir konnten endlich mit mir den Unterricht starten. Er hat sich total gefreut, mal ganz anders arbeiten zu können, und es hat super geklappt. Jetzt kann ich richtig gut Autofahren.
In meinem Psychologiestudium finde ich bisher alles interessant, dabei ist Frankfurt ziemlich Statistik lastig. Mir hat Mathe schon immer Spaß gemacht, und seit meinem freiwilligen sozialen Jahr in der Psychiatrie weiß ich genau, wofür ich die Diagnostikmethoden brauche. Anders als in der Schule ist es im Studium formell kein Problem gewesen, einen Nachteilsausgleich in Form von Zeitzugaben in Klausuren zu bekommen. Ich brauche fürs Schreiben länger und bei Anstrengung verkrampft meine rechte Körperseite, sodass ich Pausen für Lockerungsübungen einlegen muss. In der praktischen Umsetzung war allerdings mein Extra-Timer versehentlich einmal so eingestellt, dass ich nur ein paar Minuten länger hatte. Ich habe darauf hingewiesen, dass das nicht so hilfreich ist, es ließ sich aber in dem Moment nicht mehr ändern, und ich musste die Klausur ein zweites Mal schreiben. Ähnlich lief es vorher schon im Testverfahren für die Aufnahme zum Studium. Ich musste extra nach Hamburg reisen, weil nur dort der Rahmen für den Nachteilsausgleich im Test ermöglicht werden sollte. Am Ende hatte ich nur einen separaten Raum – die Zeitzugabe wurde versehentlich nicht umgesetzt. Ich habe den Test trotz zusätzlicher Hürden durchgezogen und bestanden. Mit sowas muss ich wohl immer wieder rechnen. Grundsätzlich ist aber klar, dass mir der Nachteilsausgleich zusteht. In Frankfurt und im Studium läuft für mich alles richtig gut!
Alle Teile dieser Reihe gibt es hier: https://www.allesmuenster.de/tag/Herzensangelegenheiten
Inkluencer Raul Krauthausen (https://raul.de/): DER AKTIVIST für Barrierefreiheit und Wertschätzung von Diversität „Die Neue Norm“ (https://dieneuenorm.de/podcast/): ein Trio kluger Köpfe reflektiert aktuelles Gelingen und Scheitern von Inklusion Homepage von Ingrid Hagenhenrich: https://ingrid-hagenhenrich.com/ Instagram Account von @irisbrandewie.de: https://www.instagram.com/irisbrandewie.de/
- „Menschen mit Behinderung die Tür öffnen“ In der 12. und letzten Folge unserer Serie „Herzensangelegenheiten“ treffen wir die 26-jährige Maike Meuthen aus Telgte, die heute an der südlichen Weinstraße lebt - 8. Dezember 2024
- „Traut behinderten Menschen mehr zu“ In der 11. Folge unserer Serie „Herzensangelegenheiten“ treffen wir den 29-jährigen Welat aus Münster - 10. November 2024
- „Ich hab mein Hobby zum Beruf gemacht“ In der 10. Folge unserer Serie „Herzensangelegenheiten“ treffen wir den 19-jährigen Navid aus Sendenhorst - 6. Oktober 2024