Ein See, 15-mal größer als der Bodensee und 27,5-mal so groß wie die Gesamtfläche Münsters sowie, außerdem ein geographisches Highlight des südamerikanischen Altiplano-Hochplateaus, gelegen auf einer Höhe von über 3.800 Metern: Das ist der Titicacasee, der an Peru und Bolivien grenzt. Ein See, der es auf eine unrühmliche Liste geschafft hat, ist er doch zum „Bedrohter See des Jahres“ ernannt worden – bereits zum zweiten Mal binnen elf Jahren.
Als Süßwasserreservoir hat der Titicacasee existenzielle Bedeutung für die Menschen im peruanisch-bolivianischen Andenhochland, ebenso als ursprünglich fischreicher Fanggrund für die Bevölkerung seiner Ufer. Die Angehörigen des indigenen Uru-Volks flechten aus dem speziellen Schilf, das am Seeufer wächst, ihre Boote, Häuser und sogar die künstlichen Inseln, auf denen sie im See leben. Und er ist unter anderem der Lebensraum des Titicaca-Riesenfrosch. Eine endemische Art, die nur hier vorkommt. „Er ist der größte ausschließlich im Wasser lebende Frosch der Welt. Er kann über 20 cm lang und große Exemplare bis 1 kg schwer werden“, erklärt Dr. Philipp Wagner. „Trotz eines recht großen Lebensraumes für eine endemische Art ist dieses Amphib aber laut der Weltnaturschutzunion (IUCN) stark gefährdet.“
Verschmutzung nimmt im Sekundentakt zu
Der Kurator für Forschung und Artenschutz des Allwetterzoo Münster erwähnt, dass der Meeresforscher und Unterwasserfilmer Jacques-Yves Cousteau bei seinen Tauchgängen in den frühen 1970er-Jahren den Boden noch dicht bedeckt mit den Titicaca-Riesenfröschen beschrieben und dokumentiert hat. „Er sprach von Millionen Individuen, die hier leben müssten. Heute, rund 50 Jahre später, ist der Frosch aus vielen Teilen des Sees fast völlig verschwunden.“
Gemessen an seiner Fläche ist der Titicacasee der achtzehntgrößte natürliche See der Welt. Dieser Schatz der Natur steht dabei seit Jahren unter Stress – und die Lage spitzt sich zu: 2,5 Kubikmeter Abwässer, die von der peruanischen und bolivianischen Bevölkerung erzeugt werden, fließen pro Sekunde in den See. Das entspricht in etwa 10 Mülltonnen oder rund 17 Badewannen pro Sekunde, mehr als vier 7,5 Tonnen Lkw pro Minute, wie sie gerne für einen Umzug gemietet werden.
Viele Fischarten sind bereits für immer verschwunden und Tiere wie der Titicacasee-Riesenfrosch sind gefährdet. Die internationale Umweltstiftung Global Nature Fund (GNF) und das von ihr koordinierte globale Seennetzwerk Living Lakes hat unter anderem auch deswegen in 2023 dem Titicacasee den Titel „Bedrohter See des Jahres“ verliehen.
Eine Lebensader, die immer mehr verschwindet
„Beim Titicacasee stehen die Bedeutung des Gewässers für die Menschen, die mit und von ihm leben, und seine ökologische Ausbeutung in einem besonders eklatanten Missverhältnis. Im Einzugsgebiet dieses Riesensees leben etwa zwei Millionen Peruaner:innen und Bolivianer:innen, die auf ihn als Trinkwasserreservoir angewiesen sind. Ein Großteil der Abwässer aus der Region fließt aber ungeklärt direkt in den See – zum Beispiel aus den Großstädten Puno und Juliaca in Peru und aus El Alto in Bolivien“, erklärt Biologe Dr. Thomas Schaefer, der beim GNF die Bereiche Naturschutz und Living Lakes leitet, die neuerliche Nominierung. „Dazu kommen Pestizide aus der Landwirtschaft und schwermetallverseuchte Abwässer aus teils illegalem Bergbau in der Region. Die Folgen sind drastisch und für jeden zu riechen: An manchen Ufern des Sees stinkt es – und das ist nur die offensichtlichste Folge einer sich anbahnenden ökologischen Katastrophe, der bereits ein großer Teil der Artenvielfalt im See zum Opfer gefallen ist.“
Das absurde ist, dass trotz der voranschreitenden Verschmutzung der See weiterhin für die Beschaffung von Trinkwasser und Nahrungsmitteln genutzt wird. Darunter leidet das Amphib zusätzlich. „Es ist die starke Verschmutzung des Sees durch Abwässer von Minen und Städten, illegalen, nicht-nachhaltigen Fischfang, sich ändernde Klimabedingungen, invasive Arten wie die eingesetzte Regenbogenforelle, sinkenden Wasserstand, wasserbauliche Maßnahmen und tödliche Krankheitserreger, die die Art so stark gefährden“, sagt Philipp Wagner.
Situation hat sich nur noch verschlimmert
Andererseits werden dem See auch große Mengen der kleineren Fische entnommen, um sie als Futter für die Zucht größerer Fische zu verarbeiten. „Der Titicaca-Riesenfrosch ist dabei ein willkommener Beifang. Er wird von der indigenen Bevölkerung, die an den Ufern des Sees lebt, gegessen und traditionell als Heilmittel verwendet. Die Froschschenkel sind zudem in Restaurants erhältlich“, so Wagner weiter. Und wie bei fast allen bedrohten Tierarten, wird auch den Riesenfröschen eine medizinische Besonderheit zugesprochen. „Ihre medizinische Verwendung soll angeblich gegen Gedächtnisverlust, Impotenz und Asthma helfen. Ein Extrakt aus den Fröschen wird unter dem Namen „Viagra peruano“ als Aphrodisiakum verkauft.“
Bereits 2012 war der Titicacasee von der GNF und Living Lake erstmals zum „Bedrohter See des Jahres“ erkoren worden. Elf Jahre, in denen sich nichts verbessert hat, im Gegenteil. Im Rahmen eines Treffens des internationalen Living Lakes-Netzwerk, während der 16. Living Lakes-Konferenz im Dezember 2022, sagte Juan José Ocola Salazar, Präsident der peruanisch-bolivianischen Umweltschutzorganisation ALT (Autonomous Binational Authority of Lake Titicaca): „Die Situation ist seit 2012 eher schlimmer als besser geworden, was auf den zunehmenden anthropogenen Druck auf die Wasserqualität zurückzuführen ist. Deshalb ist dieser erneute Titel ein finaler Weckruf: Wenn jetzt nichts passiert, könnte das Wasser des Sees auf Dauer nur noch unter sehr schwierigen Bedingungen als Trinkwasser für die Bewohner:innen seiner Ufer nutzbar gemacht werden. Und von Arten wie dem vom Aussterben bedrohten Titicaca-Riesenfrosch müssten wir uns dann für immer verabschieden.“
Gemeinsam für die Trendwende
Prinzipiell wäre ein Überleben im See mittelfristig durchaus denkbar, sind sich Forschende einig. Allerding müssten dafür die Ursachen der Verschmutzung eingestellt und der See saniert werden. „Dann kann dieses einmalige Gewässer auch zukünftigen Froschgenerationen ebenso eine Heimat sein wie den vielen Menschen, die in seinem Umfeld leben und ebenfalls unter der desaströsen Umweltsituation leiden“, hofft Wagner, dass es doch noch ein Umdenken gibt. „Gewässersanierungen sind gut erprobt, die Erfolgsaussichten groß. Die Frage ist nur, ob es die Frösche überhaupt noch gibt, wenn es mal so weit sein wird.“
Artenschutzinitiativen in Peru und Bolivien haben aus diesem Grund in Zusammenarbeit mit der internationalen Zoo-Gemeinschaft begonnen, die Grundsteine für ein Erhaltungszuchtprogramm zu legen. Mit einigem Erfolg – die Frösche fühlen sich offenkundig wohl in ihrer neuen Umgebung und sorgen regelmäßig für Nachwuchs. Auch private Froschfreunde können in Deutschland via Citizen Conservation helfen, größere Kapazitäten für die Haltung und Zucht dieser Tiere aufzubauen.
„Auch wir im Allwetterzoo Münster arbeiten sehr eng mit Citizen Conservation zusammen“, betont der münstersche Artenschützer die in seinen Augen sehr wichtige Zusammenarbeit zwischen Zoos und Privathaltern. Philipp Wagner betont, wie wichtig Enthusiasten und Privathalter im Rahmen des Artenschutzes sein können. Denn „engagierte Privathalter, die die Art mit Herzblut pflegen und viele Erfahrungen zur Haltung mit einbringen sind mindestens genauso wichtig um Arten wie den Titicacasee-Riesenfrosch am Ende das Überleben zu garantieren.“
Was ALT, CEDAS und GNF am See bewegen wollen
Als Partner im Netzwerk Living Lakes bemühen sich der GNF, ALT und die peruanische Umweltschutzorganisation CEDAS (Centro de Desarrollo Ambiental y Social) um die Umkehr der Abwärtsspirale: Umweltbildungskampagnen sollen die regionale Bevölkerung im Einzugsgebiet für die Bedeutung des Sees und seine Schutzwürdigkeit sensibilisieren. ALT setzt sich als supranationale Organisation dafür ein, Repräsentant:innen beider Anrainerstaaten an einen Tisch zu bekommen, um Maßnahmen und Programme zur Erhaltung, Kontrolle und zum Schutz der Wasser- und hydrobiologischen Ressourcen des Titicacasees umzusetzen.
„Wir müssen klar sehen, dass die Zeit der Absichtserklärungen vorbei ist und es massiver Anstrengungen zum Schutz des Sees bedarf“, sagt Dr. Schaefer. „Deshalb animieren wir gemeinsam mit unseren Partnern sowohl die Menschen vor Ort zu umweltverträglicherem Verhalten als auch Behörden und Entscheidungsträger:innen zur Gestaltung eines ordnungspolitischen Rahmens, dessen Einhaltung tatsächlich überwacht und dessen Verletzung sanktioniert wird. Dass es seit geraumer Zeit Unruhen in Peru gibt, macht die Lage nicht leichter – es ist aber notwendig, auch in politisch schwierigen Zeiten ökologische Themen im Blick zu behalten.“
Transparenzhinweis: In unserer Medienpartnerschaft mit dem Allwetterzoo Münster ermöglichen wir vertiefende Einblicke in die Arbeit und den Alltag des Zoos am Aasee. Die Reihe bietet Blicke hinter die Kulissen und Berichte über die Menschen, die sich jeden Tag um das Wohl der Tiere bemühen.
- Drei Küken für den Artenschutz Zuchterfolg im Allwetterzoo für den vom Aussterben bedrohten Weißschulteribis - 21. April 2024
- Einblicke in ein prekäres Bestiarium Rentnerteiche für Blutegel und schratige Waldrappen: Interview zur Lesung mit dem Kabarettisten, Bestsellerautor und Artenschützer Heiko Werning im Allwetterzoo - 14. April 2024
- Vermeintliches Heilmittel „Ejiao“ 55 afrikanische Staaten schützen Esel vor Massenschlachtungen - 24. März 2024