Der Gesang der Zikade…
…ist streng genommen der Gesang des Zikadenmannes: Es singt nur der Zikade – die Zikadin ist stumm. Sie lauscht dem Locken des Herrn.
Der Herr hockt, fein herausgeputzt und vollkommen mit dem graubraunen Untergrund verschmelzend, auf der graubraunen Rinde eines uralten Olivenbaums und ist, selbst bei intensiver Suche für das menschliche Auge kaum wahrnehmbar. Alle Jungs seiner Generation tun es ihm exakt gleich. Der Männerchor ist für das menschliche Ohr sehr wohl vernehmbar, und zwar vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang. Im Sommer können das an die sechzehn Stunden sein. Reichlich Zeit, um gedanklich der rätselhaften Gattung ein wenig auf die Spur zu kommen.
Die in unseren Breiten bekannten weitläufigen Verwandten der Singzikade sind Grillen und Heuschrecken. Auch der Heuschreck wirbt geräuschvoll um die Heuschreckin. Er streicht seine Flügel kunstvoll in einer Art Streichkonzert für die Herzdame aneinander.
Der Zikade hingegen wummert mit körpereigenen Trommeln, von der Evolution eigens zu Werbezwecken an beiden Seiten seines Abdomens hervorgebracht, Stunde um Stunde seinen Lockruf.
Fachleute können bis heute die krasse Fortdauer des Balzgesangs nicht erklären, welche nur von der Dunkelheit unterbrochen wird. Mir schwirrt das Wort „Zermürbungstaktik“ durch den Sinn. Mein inneres Auge erzeugt einen Silberrücken, der sich von Früh bis Spät mit beiden Fäusten auf den Brustkorb trommelt. Ich bin halt keine Fachfrau.
„Glücklich leben die Zikaden, denn sie haben stumme Weiber,“ frozzelte schon der griechische Dichter Xenarchos im fünften Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung.
Sein – politisch inzwischen nicht mehr ganz korrekter – Kommentar zur geschlechtsspezifischen Rollenverteilung dieser Insekten wird durch neue Forschungsergebnisse sogar noch befeuert.
Die Weibchen einiger Arten beherrschen immerhin eine Vokabel: Sie können der Paarung zustimmen. Per Flügelschlag senden sie einen Klicklaut aus, der dann angeblich „Ja“ bedeutet.
Gut dass Xenarchos dazu noch keinen Kommentar abgeben konnte!
Auch jenseits des antiken Griechenland, etwa im alten China, in Japan, Nordamerika, Afrika und dem alten Ägypten, hat die Zikade die Phantasie der Menschen angeregt.
Von der prähistorischen Zeit bis heute sind Zikaden überall dort künstlerisch abgebildet, beschrieben und umrätselt worden, wo die Geschöpfe sich einen Lebensraum erobert haben. Sogar zum Symbol für Erotik ist das Geschöpf avanciert.
Steinerne Figuren wurden als antike Grabbeigaben gefunden, ihre Gesänge werden in Kinderliedern und durch Instrumente imitiert, ihre Rufe dienen bis heute Jägern und Sammlern zur Orientierung im Tag.
Was geschieht nun mit dem Tier im Hier und Jetzt, am Stamm des Olivenbaums, perfekt getarnt durch Olivenbaumstammfärbung, nach dem Weibchen schreiend? Anders gefragt:
Wie findet das Weibchen unter all den schreienden Herren seinen Herzbuben?
Es muss sich nämlich neben der Qual der Sexualpartnerwahl vor Fressfeind Nummer eins in Acht nehmen:
Der Spatz, selbst in Brautöne gewandet, umgarnt die Spätzin so lange, bis sie ihn erhört. Beide ziehen nahe dem Olivenhain hübsche Kleine auf – graubraun wie die Ziegel, unter denen sie nisten.
Die Zikadenfrau ahnt den Appetit der Spatzenbrut und weiß, was der Nachbarin von nebenan bei der letzten Bräutigamschau widerfuhr: Den Spatzenkindern zur fetten Speise wurde sie, statt liebestrunken in die Trommelschlegel des Galans zu sinken.
Kurzum: Die Zikade hört auf ihr Bauchgefühl. Schönheit liegt stets im Auge der Betrachterin, und sie sieht, was unser Auge nicht vermag. So rätselhaft wie die Anziehung des Truthahns auf die Pute, so bedingungslos wie die Liebe der Warzensau zu ihren warzigen Ferkeln, so leidenschaftlich brennt die Luft im Zikadenhain. Und hier ziehen wir uns diskret aus dem aufdringlichen Gedankenspiel zurück.
Elf bis dreizehn Jahre lang währen die Metamorphosen, bis wieder eine Zikade aus dem Erdreich emporkriecht und tief Luft holt.
Summa Summarum:
Antike chinesische Seidenmalerei und Skizzen von van Gogh, Chansons und klassische Kompositionen widmen sich dem Tier. Eine Origami-Zikade lässt sich aus einem Stück Papier in fünfundneunzig Schritten falten. Wenn ich damit zum Start des ohrenbetäubenden Schallerns in der Morgendämmerung beginne, bin ich bis zur heiligen Stille der Nacht bestimmt gut beschäftigt.
Iris Brandewiede veröffentlicht ihre Geschichten-Bände im agenda-Verlag Münster. Mehr dazu auf https://agenda.de und auf der Seite der Autorin https://irisbrandewie.de.
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Schöne Prosa
Nur, was viele nicht bemerken:
Bei sehr genau 26°C fängt das Zikadenmännchen an, zu lärmen.
Das kann in frühester Dämmerung sein oder auch erst am späten Vormittag…