Beim Tier regiert der Instinkt, bei uns der Verstand – Das war lange Zeit vorherrschende Meinung, sowohl in der Wissenschaft als auch in der Gesellschaft. „Als ich studiert habe, ging man davon aus, dass Tiere zwar lernen aber nicht denken können. Haben Tiere Emotionen? Schwer zu sagen, sagte man damals. Sie verhalten sich zum Wohl ihrer Art und töten sich in der Regel nicht gegenseitig“, erinnert sich Norbert Sachser an die gängigen Lehrmeinungen noch bis vor einigen Jahren. Inzwischen belegen viele wissenschaftliche Beobachtungen in der Natur und im Labor, dass hier vieles neu bewertet werden muss und auch bereits wird.
Einen wesentlichen Anteil an diesem Wandel hat Norbert Sachser, der vor allem durch seine Forschungen mit Meerschweinchen auch außerhalb der Welt der Wissenschaft große Bekanntheit erlangt hat. In seinem Buch „Der Mensch im Tier“, 2018 bei Rowohlt erschienen, fasst der renommierte Tierverhaltensforscher nicht nur viele aktuelle Forschungsergebnisse zusammen, sondern geht auch der Frage nach, ob der Unterschied zum Menschen zumindest bei den Säugetieren wirklich noch so groß ist, wie wir meinen. Eine Frage, die offenbar viele Menschen beschäftigt, sein Buch ist unmittelbar nach der Veröffentlichung auf Platz 13 der Sachbuchbestsellerliste des Spiegels geschnellt, inzwischen wurde das Buch in mehrere Sprachen übersetzt und wird weltweit verlegt. Für den heute 67-jährigen Wissenschaftler noch immer ein Erfolg, mit dem er nicht gerechnet hat, wie er sagt, „Das kam für mich total überraschend!“ Andererseits, so der Autor, gibt es im deutschsprachigen Raum kein anderes Sachbuch, das so auf dem Stand des Wissens ist.
Jetzt ist ebenfalls bei Rowohlt das Buch „Das unterschätzte Tier“ erschienen, dessen Herausgeber Sachser gemeinsam mit den Wissenschaftlern Niklas Kästner und Tobias Zimmermann ist. Das Buch ist keine Fortsetzung des ersten Bestsellers sondern eine Sammlung von Beiträgen sehr unterschiedlicher Autorinnen und Autoren, die sich aus ihrem individuellen Blickwinkel der Thematik unseres veränderten Verhältnisses zum Tier und den daraus resultierenden Konsequenzen nähern. Entstanden ist es aus einer interdisziplinären Veranstaltungsreihe der Uni Münster als Beitrag zu dem Wettbewerb „Eine Uni – Ein Buch“. Autoren sind neben den drei Herausgebern weitere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie unter anderem der Leiter des Instituts für Theologische Zoologie, Rainer Hagencord, die Direktorin des Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Anne Peters oder auch die Direktorin des Allwetterzoos, Simone Schehka. Auch wenn es sinnvoll ist, das erste Buch Sachsers gelesen zu haben, bevor man das neue zur Hand nimmt, liefert der eigene Beitrag des Verhaltensbiologen zu der Anthologie „Das unterschätzte Tier“ einen guten Einstieg in die Thematik. Dem Leser würden dann allerdings viele spannende Aspekte und verblüffende Berichte entgehen.
Erkenntnisse wie der Nachweis von Ich-Bewusstsein oder Emotionen sowie vielfache Hinweise auf komplexe Gefühle wie Frustration, Eifersucht oder Trauer bei Tieren lassen die Frage nach einer Neubewertung unseres Verhältnisses zu Tieren immer dringlicher werden. Auch das Bild vom edlen Tier gehört nach Meinung des Experten auf den Prüfstand, so wurden zum Beispiel Vergewaltigungen oder brutale Kriege mit Gewaltexzessen auch im Tierreich beobachtet. Tiere können in einem gewissen Rahmen Erfindungen machen und diese Erfahrungen weitergeben, diese bauen allerdings nicht aufeinander auf, so wie beim Menschen. Fazit vieler Experimente und Untersuchungsergebnisse der letzten Jahre ist die Erkenntnis, dass wir den Tieren viel näher gekommen sind, wie Sachser erläutert. Die Neubewertung unseres Bildes vom Tier sollte allerdings nicht bei Nutz- oder Wildtieren aufhören, wie der Wissenschaftler betont, auch unser Verhältnis zu Haustieren wie Hund und Katze sollte dringend überdacht werden, „Wir sollten unsere Arroganz deutlich zurückfahren. Es ist auch biologisch nicht zu argumentieren, dass wir so etwas wie die Krone der Schöpfung sein sollten. Ich kenne keine Eigenschaft des Menschen, die es zumindest in einer Vorform nicht auch bei Tieren gibt.“
Um diesen Wandel in der Bevölkerung und in der Politik voranzutreiben, muss sich die Wissenschaft dem Dialog stellen, da ist sich Sachser sicher. „Die Entscheidungen der Politik müssen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren, so war es ja auch überwiegend beim Umgang mit der Covid-19-Pandemie. Unser Tierschutzgesetz ist im Prinzip gar nicht schlecht, vielleicht muss es nur konsequenter umgesetzt werden.
Das Buch „Das unterschätzte Tier“ ist 2022 als Taschenbuch bei Rowohlt erschienen (ISBN 978-3499009563, 14,00 Euro). Der Vorgänger „Der Mensch im Tier“ aus dem Jahr 2018 ist gebunden (21,70 Euro) und als Taschenbuch (12,00 Euro) ebenfalls bei Rowohlt erschienen (978-3498060909).
- „Jeder Baum hat eine Macke!“ Am Morgen wurde die Lambertitanne errichtet - 21. November 2024
- „Ufergespräche“: Unendliche Weiten Der Leiter des Instituts für Planetologie, Prof. Dr. Harald Hiesinger, über die Faszination der fernen Welten - 9. November 2024
- Gute Laune und ernste Töne Wolfgang Bosbach zu Gast beim Handelsverband NRW - 8. November 2024