Was bedeutet die Masematte den Münsteranern? Wem gehört sie eigentlich? Kann überhaupt eine Sprache jemandem gehören? Wer spricht sie denn noch? So richtig? Und, wenn ja: Wo wird sie gesprochen? Und dann noch: Warum wird es immer so leidenschaftlich, wenn es um Masematte geht?
Das sind Fragen, die ich mir stellen musste, nachdem ich vor einem Jahr 2018 mein Buch auf und über die Geheimsprache Masematte „Mehr Massel als Brassel. Endlich Masematte verstehen und einen toften Lenz hegen“ im agenda Verlag herausgebracht habe. Ziemlich blauäugig und voller Enthusiasmus begann ich Ende 2017 mit der Arbeit an diesem Projekt. Zuvor hatte ich versucht, im Rahmen meiner schreibmaschinenlyrik Postkarten mit kleinen Masemattetexten zu verkaufen. Die potenziellen Kunden haben sich zwar hamel beömmelt, aber die Postkarten dann wieder in den Ständer gestellt. Auf die Idee gekommen, Masemattetexte zu schreiben war ich, als mir das Wörterbuch von Prof. Dr. Klaus Siewert in die Hand fiel (mein Coworking-Büro an der Dortmunder Straße brauchte einen neuen Namen …). Mich faszinierten die Wörter und vor allem deren Herkunft. Irgendwann konnte ich erste Sätze und dann sogar kleine Texte schreiben. Ich bin also definitiv kein nativer Speaker.
Es war überraschend für mich, mit meinem Buch und meinen Musiklesungen mit Martje Saljé auf Missbilligungen meiner vermeintlich ehrenvollen Tätigkeit zu stoßen. Schließlich ging es doch um einen Wiederbelebungsversuch einer untergegangenen Geheimsprache. Der ganze Schlamassel fing eigentlich schon an, während ich das Buch noch schrieb. Tatsächlich ließen mein Verleger und ich vorsichtshalber juristisch abklären, ob es ein Urheberrecht auf „die Masematte“ gäbe. Aber nein, das beginne erst, mit dem ersten kreativen Satz, den man auf dieser Sprache schriebe…
Das diffuse Gefühl, dass ich mit meinen diversen Aktivitäten, die die Masematte betrafen, jemandem etwas wegnehmen könnte, begannen erst richtig, als mein Buch erschien und ich mit Martje Lesungen plante. So geschah es beispielsweise bei einem Interview, das Martje und ich in einem Café mit einer Journalistin führten. Zuerst mischte sich mitten im Gespräch ein älterer Herr ungefragt ein, um auf zwar amüsante aber um so ausführlichere Art und Weise aus seiner Masematte-Kindheit zu erzählen (er musste im Gegenzug mein Buch kaufen, was er brav tat). Das wurde dann aber zwei Minuten später von einer Kaline getoppt, die drei Meter weiter an einem Tisch saß und sich furchtbar (und furchtbar laut) über wissenschaftlich belegte Aussagen echauffierte, die ich der Journalistin wiedergab. Leidenschaftliche Aggression, die uns alle drei erschreckte. Meine Deeskalationsversuche fruchteten leider nicht.
Ein verrückter Zufall dachte ich, bis Martje und ich (immer noch blauäugig, aber voller Enthusiasmus) in einer Fußballkneipe unsere Musik-Lesung machten, und die Herrenriege mit dem Rentnergedeck an der Theke es gar nicht lustig fand, dass da zwei Kalinen auf der Bühne standen und brutalst in ihre „Männerdomäne“ Masematte einbrachen. „Falsch!“, „Stimmt nicht, kennen wir anders …“. Vokabeln wurden schulmeisterlich abgefragt und die Aussprache bemängelt. Okay, dachte ich, das hier sind zum großen Teil alte, weiße Männer, die immer schon die Experten am Rand waren, das ist nun mal so. Und Recht haben sie ja. Ömmes.
Aber so langsam dämmerte mir mehr und mehr, dass den masemattesprechenden Münsteranern „ihre“ Sprache etwas bedeutet. Sie ist nicht nur kommerzieller Lokalfolklorismus. Sie ist ihnen wirklich wichtig. Ich begann, mich mit der Thematik intensiver zu beschäftigen. Was bedeutet den Münsteranern die Masematte und warum wird sie leidenschaftlich verteidigt gegen Eindringlinge, die naseweis und weiblich, glauben sie verstünden etwas davon, nur weil sie ein Wörterbuch auswendig gelernt haben? Eigentlich, so dachten wir, sollten doch alle an einem Strang ziehen, um diese untergegangene Sprache zu erhalten und wiederzubeleben.
Oder etwa nicht? Es gibt tatsächlich noch ganz, ganz echte ursprüngliche Masemattesprecher in Münster. Sie sitzen manchmal in den Gartenlauben ihrer Schrebergärten Wolbecker Straße stadtauswärts, oder sie stehen in nach Bier und Pommes muffelnden Kneipen, krajöhlen sonntagsnachmittags in Kinderhaus auf dem Fußballplatz und sind 80 Jahre und älter. Sie haben vor und während des Kriegs die Masematte auf der Straße, beim Fußball, auf der Arbeit, in der Kneipe oder zu Hause gelernt.
Als zweites gibt es die Gruppe Masemattesprecher (und Sprecherinnen, hier besteht auch ein größerer weiblicher Anteil!), die die Masematte in den 60er und 70er Jahren als Jugendsprache nutzten. Das waren meist ortsansässige Schüler oder Studierende, die Wörter bei ihren Eltern und Großeltern aufgeschnappt hatten. Man traf sich am Lamberti Brunnen, und die Dinge waren „jooooovel“ oder „schoooofel“ oder „haaaaamel“. Die Seegers und Kalinen grenzten sich damit erfolgreich ab. Sie waren die münsteraner Jugend und sie waren „voll cool“ mit ihrer Jugendsprache. Heute sind sie Akademiker, Journalisten, Bankangestellte, Beamte, Mittelständler, Handwerker etc., die zu einer breiten Bevölkerungsgruppe in Münster und Umgebung gehören und um die 60 Jahre und älter sind. Auch sie sind der festen Überzeugung, dass sie die MasemattesprecherInnen sind. Die originalen!! Die, die Bescheid wissen! Aber richtig! Und sich in Interviews einmischen, in Cafés zum Beispiel, ganz ungeniert…
Und dann gibt es an Sprachen interessierte Autoren und Journalisten, die mit dieser alten untergegangenen Geheimsprache ihre Gedanken zum Ausdruck bringen. Um es böse zu sagen, unter dem Deckmäntelchen, sie vor dem Untergang zu bewahren, nutzen wir (ich schließe mich nicht aus!) diese Sprache, um uns mit Büchern, Postkarten, Liedern, Lesungen, Büttenreden, Kolumnen, Kommentaren, Theaterstücken, Stadtführungen, Werbesprüchen, Hoody-Beschriftungen etc. zu profilieren. Darf man das? Ist das legitim? Überspitzt: Ist es rechtens, eine mit dem Holocaust verloren gegangene Geheimsprache, die von Menschen gesprochen wurde, die in Münster nicht zur Crème de la crème gehörten zu benutzen, um den eigenen “Themen“ einen nostalgischen Touch zu verleihen? Einer, der sich wissenschaftlich mit Geheimsprachen in Deutschland beschäftigt hat, eben auch mit dem Jenischen oder dem Manischen aus Göttingen, ist Prof. Dr. Christian Efing von der Universität in Wuppertal. In seinem Buch „Geheimsprachen. Geschichte und Gegenwart verschlüsselter Kommunikation“ beschäftigt er sich mit diesem Phänomen.
Als ich das Buch las, fiel bei mir der Groschen! Geheimsprachen wie die Masematte haben zwei Funktionen, einmal die der Abgrenzung von anderen Personen und Personengruppen und zum anderen die der Identitätsstärkung. Beides, aber letzteres insbesondere, scheint mir der ausschlaggebende Grund für die leidenschaftliche Verteidigung der Masematte zu sein. Denn wer möchte schon seiner Identität beraubt werden? Klar, eine Sprache, die „mir“ gehört, damit ich weiß, wer ich bin und wo ich hingehöre, die wird mit Zähnen und Klauen verteidigt. Endlich hatte ich verstanden, warum MasemattesprecherInnen so heftig reagieren, wenn es um „ihre“ Sprache geht.
Ein Erlebnis zur Illustration: Beim Jahresabschluss der Drogenhilfe Münster durfte ich mit meiner Masemattelesung das „kulturelle Highlight“ sein. Nach der Lesung kam ich mit einem Streetworker ins Gespräch, der mit Obdachlosen arbeitete, die „hinterm Bahnhof“ lebten und Masematte sprachen. Er sagte sinngemäß: „Wenn man nichts mehr hat, keine Familie, kein Zuhause, keinen Besitz, keinen Halt, dann hat man nur noch seine Sprache, die Masematte, die Identität stiften kann. Mit der man noch jemand ist.“
Da habe ich mich zunächst geschämt, dass ich diese Sprache benutze, um Menschen zu unterhalten. Mir ging und geht es in meinen Kolumnen für ALLES MÜNSTER, meinem Buch und in unseren Lesungen zwar immer darum, möglichst die Dinge aus der Sicht der kleinen Leute darzustellen, aus der der echten Masemattesprecher von „damals“, der einfachen Menschen, der Nichtsesshaften, der sogenannten „Asozialen“, Sinti und Roma, fahrendes Volk, Jahrmarktbeschicker, Kleinkriminellen, Händler…, und eben auch vieler Juden. Aus der Sicht derer, die später zum allergrößten Teil dem Holocaust zum Opfer fielen.
Seit diesem Zeitpunkt gehe ich sensibler mit der Masematte um. Mein Ansatz tendiert mehr und mehr dahin, die Funktion, die Bedeutung und die Hintergründe der Masematte als Geheimsprache zu verdeutlichen. So wie bei den Grundschülern in den Büchereien, die ich mit dem Märchen „Die Bremer Stadtmusikanten“ auf Masematte in die Geheimnisse einer Geheimsprache einführe. Festzuhalten gilt: Die Masematte darf unterhaltsam und witzig sein, aber sie darf nicht oberflächlich missbraucht werden ohne ihre Funktionalität mitzudenken.
Sollte man vor diesem Hintergrund die Masematte also tatsächlich wiederbeleben? Oder sollte man sie irgendwann würdig sterben lassen wie die alte Rotbuche an der ehemaligen Boniburg, nachdem sie ihre identitätsbildende Funktion für münsteraner Mitbürger verloren haben wird? Heute glaube ich fest daran, dass sie als Kulturgut den kritischen Verstand der Münsteraner schärfen und als Beispiel einer hochinteressanten und weiter erforschungswürdigen Geheimsprache fungieren sollte. Die Masematte ist rotzig und kritisch, sie ist respektlos und gefühlvoll, sie ist frech und provokant, sie ist ironisch und kreativ…, aber vor allem: Sie ist autonom! Sie entzieht sich durch ihr Wesen jeglicher Eigentumsansprüche und unangemessener Vereinnahmungen. Ömmes!
Alles jovelino? Wer mir von „seiner“ Masematte erzählen möchte hat Gelegenheit! Ich sitze am 1. September beim Promikellnern mit meiner Schreibmaschine unter meinem weißen Pavillon am Aassee und schreibe auf Wunsch Masematte-Texte auf Postkarten (selbstverständlich nur gegen eine Spende für die Krebsberatungsstelle).
Literatur: Siewert, Klaus: Das große Wörterbuch der Münsterschen Masematte. Münster, 2003. Efing, Christian / Arich-Gerz, Bruno: Geheimsprachen. Geschichte und Gegenwart verschlüsselter Kommunikation. Wiesbaden, 2017.
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Sehr gut nachvollziehbar und berührend geschrieben und beschrieben! Danke für diese Einblicke!
Als gebürtiger Havixbecker, der auch in Münster zur Schule gegangen ist und seit über 30 Jahren in Ulm wohnt ist es immer wieder schön etwas aus der alten Heimat zu lesen und zu hören. Danke für die informativen und auch lustigen Beiträge.